Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Ort eines Anschlags oder einer Revolution.
Avraham war am denkbar falschesten Tag eingetroffen. In den Mittagsstunden hatten zwei Radfahrer die Leiche der fünfundzwanzigjährigen Landschaftsarchitektin Johanna Getz auf einem Kartoffelacker am Stadtrand von Brüssel entdeckt. Die junge Frau war vor genau einer Woche verschwunden, und ebenso lange hatte die Suche nach ihr gedauert.
Ein Schauder überkam Avraham.
Aber die Umstände waren vollkommen andere. Von dem Moment an, in dem ihr Lebensgefährte, ein Grafikdesigner von Ende zwanzig, Johanna Getz als vermisst gemeldet hatte, war klar gewesen, dass sie Opfer eines Kapitalverbrechens geworden war. Sie war am Sonntagabend in ihre Wohnung im Norden von Brüssel zurückgekehrt, die sie sich mit ihrem Lebensgefährten und einem weiteren Mitbewohner teilte, und war, den Spuren in der Wohnung zufolge, wenige Minuten später gewaltsam gezwungen worden, das Haus überhastet wieder zu verlassen. Ihr Portemonnaie und ihre Tasche hatten auf dem Tisch in der Küche gelegen. Im Ofen war die Pizza verbrannt, die sie sich hatte aufwärmen wollen. Die belgische Presse hatte ausführlich über den Fall berichtet. In einigen Zeitungen hieß es, solange nicht klar sei, was Johanna Getz zugestoßen war, sollten junge Frauen nachts besser nicht allein auf der Straße unterwegs sein, ja sich vielleicht nicht einmal allein zu Hause aufhalten. Und jetzt, da man die Leiche gefunden hatte, in einem Zustand, von dem die Medien noch nichts wussten, wuchs die Angst und mit ihr auch der Druck auf die Polizei.
Avraham schaltete den kleinen Fernsehapparat ein. Auf einem der sechs Kanäle, deren Empfang passabel war, verfolgte er einen Bericht, der offenbar von dem Acker aus gesendet wurde, auf dem die Leiche gefunden worden war. Jean-Marc konnte er unter den Scharen von Polizisten, die spezielle Plastikhandschuhe und Überschuhe trugen und den Fundort absuchten, nicht ausmachen, nahm aber an, dass er dort war. Dieses ganze Fortbildungs- und Austauschprogramm ist ein Witz, wenn sie mir keinen Dolmetscher zur Seite stellen, dachte Avraham.
Nach zwei Minuten auf der Straße erwischte ihn der Regen. Er trug zur Jeans nur ein kurzärmliges Polohemd. Flott marschierte er eine lange, stockfinstere Straße entlang, die offenbar nirgendwohin führte. Ein Straßenschild fand er nicht. Brüssel war wie verdunkelt, und alle Läden waren geschlossen. Anstatt in einem lokalen Bistro aß er in einer Filiale von Subway, in der er Zuflucht vor dem strömenden Regen fand, zu Abend: ein Sandwich aus pappigem Weißbrot mit exotischer Wurst, Mayonnaise und ein bisschen Senf. Dabei sah er sich ein Basketballspiel zwischen zwei Frauenteams aus Kowna und Prag an, das auf Eurosport 2 übertragen wurde.
Als er in sein kleines Zimmer im Hotel Espagne zurückkehrte, war es genau neun Uhr. Seine Eltern hatten alle zehn Minuten auf seinem Mobiltelefon angerufen, obwohl er sie gewarnt hatte, dass die Gespräche teuer waren. Sein Vater wollte wissen, ob er wohlbehalten gelandet sei, als hätte er in den Nachrichten nicht längst etwas davon gehört, wenn sein Flugzeug abgestürzt oder auf dem Weg von Tel Aviv nach Brüssel entführt worden wäre. »Ich habe im Internet gesehen, dass es in Brüssel regnet«, sagte er.
Die Hoffnung, die bei Avraham Avraham aufgekeimt war, als er dachte, es wäre Bewegung in die Ermittlung gekommen, war in den Tagen vor seiner Abreise erstorben. Es war ein langsames Dahinscheiden, begleitet von Zuckungen und Krämpfen. Schärfsteins heiße Spur, die für einen Moment das ganze Team, ja selbst ihn elektrisiert hatte, hatte in einer Sackgasse geendet. Der unter Bewährungsauflagen freigekommene Bursche, Toccatelli war sein Name, wurde zur Vernehmung einbestellt, stritt ab, irgendetwas mit dem Fall zu tun zu haben, und behauptete, die komplette Woche, in der Ofer verschwunden war, in Jerusalem gewesen zu sein. Seine Aussage konnte belegt werden. Mit sichtlichem Bedauern nahm Schärfstein an der Eingangstür des Reviers Abschied von seinem Verdächtigen, versprach ihm, man werde sich noch wiedersehen, und fuhr fort, aktenkundig gewordene Straftäter im Umkreis zu suchen.
Avraham Avraham befragte Rafael und Hannah Sharabi noch zwei weitere Male. Einmal gemeinsam und einmal getrennt voneinander. Dabei kam er erneut auf den Streit – oder Wortwechsel – zu sprechen, zu dem es laut Michal Avni am Dienstagabend zwischen ihnen beiden oder zwischen ihnen und Ofer gekommen war. Abermals behaupteten
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