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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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hin und erklärst alles. Außerdem können wir es nicht für uns behalten, weil das schrecklich wäre. Gut möglich, dass Ofers Eltern deswegen glauben, dass er lebt und es ihm gutgeht. Wir müssen es erzählen. Und wenn du hingehst und alles gestehst, kann es sein, dass die Polizei sich darauf einlässt, den Eltern nicht zu verraten, von wem die Briefe stammen. Wie sollen wir denn sonst hier im Haus leben? Meinst du etwa, wir können hier wohnen bleiben, wenn alle wissen, dass du die Briefe geschrieben hast?«
    »Und was sollen wir machen, wenn sie mich festnehmen?«, fragte er.
    »Wir lassen uns vorher von einem Rechtsanwalt beraten. Immerhin hast du ja nichts Böses getan, nur Briefe geschrieben. Aber wenn du hingehst, ihnen die Wahrheit erzählst und Reue zeigst, werden sie dich nicht verdächtigen, du könntest etwas mit Ofers Verschwinden zu tun haben. Erklär ihnen, dass du von nichts weißt. Dass es alles in allem bloß eine Schreibübung war.«
    Obwohl sie versuchte, ruhig zu klingen, ihn in Schutz nahm und nur flüsternd sprach, dieser letzte Satz war dazu bestimmt, ihn zu treffen. Verletzt erwiderte Seev: »Ich muss mir bei keinem Anwalt Rat holen. Wenn es sein muss, bin ich bereit, mit Avraham Avraham zu sprechen. Er wird mich sicher verstehen.«
    »Dann ruf ihn an. Komm, jetzt sofort. Das kann nicht länger warten.«
    Es war sonderbar.
    Avrahams Visitenkarte fand sich am Ende ausgerechnet in dem schwarzen Heft. Seev fiel erst ein, dass er sie dort hineingelegt hatte, zwischen den Einband und die letzte Seite, nachdem er die Karte in seinem Portemonnaie, in seiner Schultasche und in den Schubladen seines Schreibtischs gesucht hatte.
    Michal folgte ihm auf den Balkon und stand mit Ilay auf dem Arm neben ihm, als am anderen Ende der Leitung Avrahams Stimme erklang. Seev erklärte, er müsse sich noch einmal mit dem Inspektor unterhalten, und Avraham erwiderte, er könne ihn frühestens am Montag treffen, da er zurzeit im Ausland sei. Er wollte wissen, ob Seev wichtige Informationen für die Ermittlung habe, und Seev verneinte und sagte, er rufe wegen etwas anderem an. Avraham schlug vor, er solle sich einfach an das Präsidium wenden, aber Seev bestand darauf, nur mit ihm zu sprechen. Avraham klang irgendwie anders als sonst, abwesend und zugleich aufgewühlt.
    »Ich erwarte Ihren Anruf am Sonntag. Sie können mir dann ja sagen, wann es Ihnen am besten passt, aufs Revier zu kommen«, sagte der Inspektor und beendete das Gespräch.

    Michal fuhr mit Ilay zu ihren Eltern, um in Ruhe nachzudenken. Seev blieb allein in der Wohnung zurück. Es wurde Abend. Er wagte nicht, auf den Balkon zu treten, von dem aus die Straße zu überblicken war. Passanten, die den Kopf hoben und zu den Fenstern hochschauten, hätten ihn sehen können. Erst da begriff er, dass im Prinzip alles zu Ende war. All das, was sich zwei Wochen zuvor eröffnet hatte, war nun versperrt. Fenster und Türen, der andere Mensch in ihm, die Geburt, Michael Rosen, das Schreiben. Schreiben zu können, worauf er jahrelang gewartet hatte. Michals aufgebrachte Reaktion und das Gespräch mit ihr hatten die Idee, die ihn so fasziniert hatte, zu etwas Unerhörtem und Beängstigendem gemacht. Zu dem Workshop würde er nicht mehr gehen. Würde keine Briefe mehr schreiben, nicht einmal an sich selbst. Das schwarze Heft lag auf dem Schreibtisch, geschlossen, abstoßend wie eine von Aussatz befallene Hand. Er schlug es nicht auf und las den ersten Absatz des vierten Briefes nicht noch einmal, der mit dem Satz begann: Papa, Mama, lest Ihr auch weiterhin die Worte, die ich Euch von dem Ort, an dem ich mich befinde, schicke?
    Seev wollte raus aus der Wohnung und stundenlang durch die Dunkelheit wandern, seine Beine und die Angst müde machen, doch das war unmöglich. In seiner Vorstellung fixierten ihn aus jedem Winkel und von jedem Balkon aus kalte Augen. Alle wussten schon Bescheid. Aber was zum Teufel konnten sie wissen?! Der Gedanke, am nächsten Tag wie üblich zur Schule zu gehen und dort seine Schüler und die Kollegen zu treffen, war unerträglich, und er beschloss, am Morgen erneut im Sekretariat anzurufen und sich krankzumelden. Ohnehin würde man ihn bald entlassen.
    Dabei gab es eigentlich keinen Grund, nichts hatte sich verändert auf der Welt, dennoch ließ ihn das kleinste Geräusch hochschrecken, als heulte in seinem Kopf eine Polizeisirene los. Er versuchte sich zu beruhigen. Trank einen großen Becher ungesüßten Kamillentee. Dann wurde ihm

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