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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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dieser Briefe. Wer diese Briefe schreibt, hat klare Adressaten, die er erreichen möchte.«
    »Ich kann dir nicht glauben, dass du sie ihnen in den Briefkasten gesteckt hast.« In Michals Augen glitzerten Tränen.
    Wieder hätte er sagen können: »Ach Quatsch, ich habe nur Spaß gemacht.« Doch er schwieg.
    Michal stand auf und ging.
    Er fand sie am Küchentisch sitzend, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und die Hände vor die Augen gepresst. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Versuchte, sie in den Arm zu nehmen, aber sie entzog sich ihm.
    »Seevi, du hast die Briefe nicht in ihren Kasten gesteckt, stimmt’s? Du willst mich foppen?«
    Er antwortete nicht.
    »Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast. Wie konntest du so etwas tun? Was ist los mit dir?«
    Er war erschrocken über ihren Schmerz. Ließ sich davon anstecken. »Sie wissen doch nicht, dass ich das war«, sagte er.
    »Was ändert das? Verstehst du überhaupt, was du getan hast?«
    Sicherlich verstand er es. Genau deshalb hatte er ja die Briefe eingeworfen. Er schwieg weiter und strich Michal übers Haar.
    Sie nahm die Hände nicht vom Gesicht, während sie sprach. »Du musst zur Polizei gehen und sagen, dass die Briefe von dir sind. Sie suchen bestimmt schon nach demjenigen, der sie geschrieben hat. Vielleicht denken sie wirklich, sie stammten von Ofer.«
    »Wieso zur Polizei?«, fragte er.
    Da hob sie plötzlich den Kopf, nahm die Hände von ihren braunen Augen, riss sie weit auf und rief: »Seevi, ist irgendetwas zwischen Ofer und dir gewesen?«
    Er war fassungslos. Das war das zweite Mal, dass jemand so etwas andeutete. Und ausgerechnet Michal.

    Der schwerste Augenblick an jenem schrecklichen Nachmittag war der, in dem sie Ilay aufwachen hörten. Offenbar waren sie trotz allem lauter geworden. Doch weil Ilay die Stimmen seiner Eltern hörte, weinte er nicht. Sie hörten, wie er in seinem Zimmer mit sich selbst redete, in Worten, die nur er verstand, als spielte er in seiner unfertigen Sprache ihre Unterredung nach. Michal wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging zu dem Jungen. Aber als sie Ilay im Arm hatte, fing sie plötzlich so heftig zu weinen an, dass es sie schüttelte. Sie drückte Seev den überraschten Kleinen in den Arm, hastete ins Badezimmer und schloss sich ein. Sekunden später kam sie herausgestürmt, riss Ilay seinem Vater beinahe aus den Händen und flüchtete mit ihm ins Schlafzimmer. Seev ging ihnen nach und setzte sich aufs Bett. Ilay verstand nichts von alledem, schien aber glücklich im Bett seiner Eltern und krabbelte zwischen ihnen beiden hin und her.
    »Willst du wirklich, dass ich zur Polizei gehe?«, fragte Seev.
    Und sie erwiderte: »Seevi, du hast doch auch einen Sohn, wie konnte dir nur so etwas einfallen? Ich verstehe das nicht.«
    Er versuchte, näher an sie heranzurücken. Ilay fasste seine Hand, stellte sich auf seine Beinchen und ließ sich auf seinen Vater fallen. Über Literatur sprachen sie gar nicht mehr, und würden es gewiss auch nie wieder tun. Als hätte sich das Schreiben unversehens, da Michal klargeworden war, dass die Briefe echte Adressaten hatten, in einen unmoralischen Akt verwandelt, in eine Straftat. Als wären die Worte, die er geschrieben hatte, ein großer Stein, den man nach jemandem geworfen und ihn damit verletzt hätte.
    »Das ist die richtige Entscheidung, oder nicht? Denkst du etwa, es ist besser, wir warten hier, bis sie uns die Tür aufbrechen, die Wohnung auf den Kopf stellen und dich verhaften, und das alles vor Ilay, vor Ofers Eltern?«
    Er verstand nicht, warum sie davon überzeugt war, dass die Polizei ihn verhaften würde. Sie brachte Gründe und Argumente durcheinander, die nichts miteinander zu tun hatten. Behutsam versuchte er ihr zu erklären, dass ihn unmöglich jemand mit den Briefen in Verbindung bringen konnte. Er hatte darauf geachtet, sie auf ganz normales Papier zu übertragen und in ein Standardkuvert zu stecken, hatte keine Fingerabdrücke hinterlassen und war nicht gesehen worden, als er sie in den Briefkasten der Sharabis hatte gleiten lassen. Anderthalb Wochen waren vergangen, seit er den ersten Brief abgeschickt hatte, und niemand war ihm auf die Spur gekommen.
    Aber Michals Angst übertrug sich allmählich auch auf ihn. »Wir können das nicht für uns behalten«, sagte sie erneut.
    »Warum?«, fragte er abermals. »Wer sagt dir das?«
    »Weil es die Polizei am Ende herausbekommen wird, also ist es besser, sie erfahren es von dir. Du gehst

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