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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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einem bestimmten Thema vor, die sie mit in die Klasse bringen. Und dann wird darüber gesprochen. Aber ich arbeite an etwas anderem. Mir ist einfach eine Idee gekommen, nicht einmal während des Workshops, aber vielleicht inspiriert davon, und ich arbeite jetzt an etwas Größerem und Längerem.«
    Sie lächelte, als sei ihr klar gewesen, dass er sich nicht mit bloßen Schreibübungen abgab.
    »Könnte mir der Herr Autor vielleicht auch erzählen, worüber er schreibt?«
    »Ich weiß nicht.« Sein Ringen mit sich selbst war ehrlich. Er versuchte nicht, ihre Neugierde durch seine Skrupel zu wecken. Die Reaktion seiner bisherigen Leser hatte er nicht sehen können. Weder die von Ofers Eltern noch die der Polizei. Nur erraten. Aber Michals Gesicht würde er während des Lesens beobachten können.
    »Wie du möchtest«, sagte sie. »Ich würde es sehr, sehr gern lesen. Außerdem möchte ich, dass wir das feiern.«
    »Feiern? Noch gibt es nichts zu feiern. Du musst erst lesen und sagen, ob es dir gefällt«, erklärte er.
    Sollte er es ihr geben oder nicht?
    Er legte das aufgeklappte Heft vor sie auf den Tisch. »Ich habe es noch nicht im Computer. Noch ist alles hier in diesem Heft. Drei abgeschlossene Briefe oder Kapitel, wie du willst.« Ihre Aufregung köderte ihn.
    »Aha, ein Briefroman«, meinte sie und begann zu lesen.

    Ilay schlief, und kein Laut war von ihm zu hören, obwohl Seev angestrengt lauschte. Mehr als alles andere fürchtete er, Ilay würde aufwachen und weinen und Michal gezwungen sein, ihre Lektüre zu unterbrechen und zu ihm zu gehen. Oder er selbst müsste aufstehen und nach dem Jungen sehen, dann würde er Michals Reaktionen nicht mitbekommen. Er verfolgte, wie ihre Augen über die Buchstaben glitten. Registrierte jede Regung in ihrem Gesicht. Sollte Ilay aufwachen, würden sie auch nicht direkt nach ihrer Lektüre über den Text sprechen können, sondern wären gezwungen, bis zum Abend zu warten. Und dann hätte sich der erste Eindruck bereits verflüchtigt.
    Der dritte Brief war der längste von allen und in Seevs Augen auch der komplexeste, weil er reflexiv war und sich auf den Prozess der Lektüre der beiden vorangegangenen Briefe bezog und auf die Möglichkeit, dass ihr Empfänger die Identität des Verfassers und dessen Glaubwürdigkeit anzweifelt. Wie die beiden ersten begann er mit der Anrede Papa, Mama . Und gleich darauf formulierte Ofer eine Reihe von Fragen:

    Wo habt Ihr die beiden Briefe gelesen, die ich Euch geschickt habe? In meinem Zimmer? Im Wohnzimmer? Und was habt Ihr gedacht, als Ihr sie gelesen habt? Habt Ihr Euch gesagt, das bin nicht ich, das kann ich nicht sein, um Euch zu schützen vor dem, was dort steht? Habt Ihr versucht, Euch einzureden, jemand anders hätte sie in meinem Namen geschrieben, um Euch nicht mit meinem Schmerz auseinandersetzen zu müssen? Und was habt Ihr mit ihnen gemacht, nachdem Ihr sie gelesen habt? Habt Ihr sie vernichtet, damit Ihr die Worte, die ihr nicht hören wollt, nicht noch einmal lesen müsst? Aber ich werde niemals aufhören zu schreiben.

    Er hatte den dritten Brief am helllichten Tag und fast ohne jede Furcht in den Kasten gesteckt. Dabei hatte er dünne Lederhandschuhe getragen, die er in einem Autozubehörshop gekauft hatte, vorgeblich für seine Fahrten mit dem Motorroller.
    Seev versuchte sich vorzustellen, welche Gedanken Michal beim Lesen durch den Kopf gingen. Sie wirkte sehr ernst. Einmal konnte sie eine Stelle nicht entziffern – als ich begraben wurde – und fragte nach, und ein andermal hob sie kurz den Kopf und bedachte ihn mit einem sonderbaren Blick.
    »Was ist?«, wollte er wissen.
    Sie senkte den Blick wieder auf das schwarze Heft und las weiter. Als sie fertig war, schaute sie ihn an und fragte bloß: »Was ist das?«
    »Was soll das heißen?«, entgegnete er.
    »Sind das Briefe von unserem Ofer? Von Ofer aus dem Haus?«
    Gerade weil Ofers Verschwinden und die erfolglose Suche nach ihm tief in ihre Gedanken und Träume vorgedrungen waren, wusste er, dass sie die geeignete Leserin sein würde.
    »Ja. Briefe, die er an seine Eltern schreibt und in denen er erklärt, was passiert ist.«
    Sie antwortete nicht.
    Er wartete einen Moment und fragte schließlich: »Was sagst du?«
    Sie hatte sich noch nicht über die Briefe selbst geäußert. Über ihren Inhalt oder ihren Stil.
    »Was soll das heißen: Er erklärt, was passiert ist?«, fragte sie. »Woher weißt du, was passiert ist?«
    »Ich weiß es nicht. Ich versuche, es

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