Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
übel, und er wollte sich übergeben. Er sagte sich, Avraham würde ihn verstehen. Er hatte keinen Zweifel, dass der Inspektor ihn harsch kritisieren würde, aber festnehmen würde er ihn nicht. Dessen war er sicher, obgleich er sich lediglich auf das gegenseitige Verständnis stützen konnte, das seiner Meinung nach zwischen ihnen geherrscht hatte. Und wie konnte es sein, dass sich Avraham mitten in der laufenden Ermittlung im Ausland aufhielt? Stand seine Reise etwa im Zusammenhang mit der Suche nach Ofer? Konnte es sein, dass es Ofer gelungen war, aus Israel auszureisen?
Seev dachte erneut an Michael Rosen. An seine geröteten Augen und den strengen Geruch seiner Haut. An seine Beine, die nur mit Mühe Platz im Fußraum des kleinen Wagens fanden. Er bedauerte, dass er ihn nicht wiedersehen würde. Erinnerte sich nicht, ob er ihm seine Telefonnummer gegeben oder seine Adresse im Sekretariat des Ariela-Hauses hinterlegt hatte, weshalb er nicht wusste, ob Michael von sich aus Kontakt zu ihm aufnehmen konnte, um herauszufinden, warum er mitten im Workshop verschwunden war.
Der Gedanke, Menschen, die er kannte, vor allem entfernte Verwandte oder alte Bekannte aus dem Studium, würden in der Zeitung lesen, was passiert war, machte ihn starr vor Schreck. Würde auch Michael davon lesen? Er wollte aufhören nachzudenken. Verlöre er seinen Job, wäre das nur gut.
Er hatte Michal vorgeschlagen, er würde die Wohnung verlassen und in ein Hotel ziehen, bis er mit Avraham gesprochen haben würde und sich die Dinge geklärt hätten. »Vermutlich kommst du hier ohne mich eher zur Ruhe«, hatte er gesagt und es auch so gemeint. Doch stattdessen war sie gegangen, und er fragte sich, ob sie noch einmal zurückkommen würde.
Er schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer ein, bei laufendem Fernseher, und hatte in der Nacht Träume, an die er sich, anders als sonst, am Morgen noch vage erinnerte.
Als er hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, lag er noch immer auf dem Sofa, unter einer bunten, dünnen Decke, die er sich mitten in der Nacht aus dem Bett seines Sohnes geholt hatte. Seine Glieder waren steif. Ganz allmählich drangen die Ereignisse von gestern wieder in sein Bewusstsein.
Michal kam herein. Allein. Ilay war bei ihren Eltern geblieben. Sie setzte sich neben ihn.
»Es tut mir leid, dass ich gegangen bin«, sagte sie. »Wie hast du geschlafen?«
»Ganz gut. Ich denke ziemlich viel nach. Wie viel Uhr ist es? Wie habt ihr geschlafen?«
»Ich möchte mit dir reden, möchte, dass du mir erklärst, warum du das getan hast, weil ich einfach nicht begreifen kann, was passiert ist.«
»Ich auch nicht«, erwiderte er und brach in Tränen aus.
»Weine nicht, wir stehen das durch«, meinte Michal tröstend.
Doch er antwortete: »Nein, ich heule vor Freude. Ich dachte nicht, dass du noch mal zurückkommst.«
Sie strich ihm über sein blondes Haar.
Danach öffnete sie die Sonnenblenden auf dem Balkon, um die Wohnung zu lüften, und goss zwei Becher Kaffee auf. Legte eine Schachtel Zigaretten neben die Kaffeebecher auf den Wohnzimmertisch und sagte: »Ich glaube, wir beide sollten mal wieder eine rauchen.«
Wie in einer Zeitmaschine reisten sie Jahre zurück. Achtundvierzig Stunden verließen sie die Wohnung nicht, rührten sich kaum vom Sofa, als wären sie ein ganzes Wochenende lang wieder Studenten, ein Wochenende, das sie fast ohne Schlaf verbrachten und in dessen Verlauf sie all die kommenden Jahre von neuem und anders leben konnten, um zu Wochenbeginn in eine Welt zu treten, in der keine Briefe geschrieben worden waren, eine Welt, in der sie Ofer nicht kannten und keinerlei Notwendigkeit bestand, reumütig auf einem Polizeirevier zu erscheinen. Vielleicht schliefen sie nicht, weil sie wach sein wollten, wenn das geschähe, was sie beide befürchteten.
Sie sprachen über das letzte anstrengende Jahr mit Ilay, über ihre Karrieren, über den Umzug nach Cholon. Sie entfernten sich voneinander, kamen einander näher und gingen erneut auf Distanz. Zuweilen meinte Seev, Michal würde ihm verzeihen, und dann wieder drängten sich der Schock über die Entdeckung und das Unverständnis zwischen sie wie im ersten Augenblick.
»Als ich die Briefe gelesen habe, habe ich sofort verstanden, dass in ihnen mehr über dich als über Ofer steht«, sagte Michal. »Und dann habe ich gedacht, du hättest sie eigentlich an mich schicken müssen. Dass ich die eigentliche Adressatin bin. Du hättest anonyme Briefe mit meinem Namen
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