Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
mir vorzustellen, das ist alles. Ich versuche, die Dinge aus seinem Blickwinkel zu betrachten und zu verstehen, was geschehen ist.«
»Aber wie kannst du so etwas schreiben, ohne zu wissen, was tatsächlich passiert ist?«
»Selbstverständlich kann ich das. Das ist weder ein Kriminalroman noch ein Zeitungsartikel. Mich interessiert nicht, was passiert ist. Was mich interessiert, sind die seelischen Prozesse, die er durchmacht, oder genauer gesagt, die Prozesse, die ich mir vorstelle, dass er sie durchgemacht hat und an deren Ende er verschwunden ist.«
Michal schwieg. Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Er überlegte kurz, ob ihre Unterhaltung in der Etage über ihnen zu hören war. Sie blätterte zurück und las den ersten Brief noch einmal.
»Also, was sagst du?«, fragte er leise.
»Dass mir das Angst macht.« In ihrer Stimme war kein Hauch von Begeisterung.
Er versuchte zu lächeln. »Angst machen ist gut, oder? Das ist genau das, was Literatur leisten muss.«
»Ich weiß nicht, was Literatur leisten muss.«
»Die einzige Frage ist, wie es auf dich gewirkt hat, als Leseerlebnis. Hast du konzentriert gelesen? Wolltest du weiterlesen, oder hast du dich gelangweilt? Hattest du das Gefühl, dass in den Briefen die echte Stimme eines Jungen steckt, der zu seinen Eltern spricht?«
»Ich glaube, ja.«
»Das ist mir wichtig. Ich gebe zu, dass ich hier etwas Beängstigendes tue, wenn ich in den Kopf eines Sechzehnjährigen schlüpfe und außerdem in der ersten Person schreibe, was die größte Schwierigkeit überhaupt beim Schreiben ist. Die Frage ist, bin ich auf dem richtigen Weg oder nicht?«
Das ließ sie unbeantwortet. Stattdessen fragte sie: »Warum bist du ausgerechnet auf Ofer gekommen?«
»Weil ich Ofer kenne und weil ich eine Figur in ihm gesehen habe, die mich fasziniert. Seine Geschichte fasziniert mich. Aber dir ist doch klar, dass es nicht nur um Ofer geht, oder? Dass in ihm noch andere Figuren angelegt sind? Vielleicht auch ich.«
»Hast du keine Angst, jemand könnte das lesen und denken, du hättest etwas mit dem zu tun, was Ofer passiert ist?«
»Was? Wieso denn das? Nein. Außerdem glaube ich, dass ich wirklich etwas mit dem zu tun gehabt habe, was ihm passiert ist, obwohl wir nicht wissen, was geschehen ist. Ich habe wohl ziemlichen Einfluss auf ihn und sein Leben gehabt, und deshalb fühle ich mich seiner Geschichte auch so nahe.«
Michal betrachtete ihn mit einem sonderbaren Blick, den er nicht zu deuten wusste. Plötzlich fragte sie: »Was haben sie im Workshop gesagt?«
»Noch gar nichts. Ich habe den Text noch nicht vorgestellt. Und ich bin auch noch nicht sicher, ob ich es tun werde. Vielleicht gebe ich ihn nur Michael. Aber ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Angst, die Idee preiszugeben, ich meine den Einfall an sich und den Aufbau des Buches. Überleg mal, das wird ein Roman, der vollständig aus den Briefen eines vermissten Jungen an seine Eltern besteht. Ich glaube nicht, dass es einen solchen Roman, zumindest auf Hebräisch, schon gibt.«
»Mir macht das Angst«, sagte sie erneut. Sie hielt das Heft in der Hand und betrachtete die schwarze Handschrift, die Streichungen und Pfeile entlang der Seiten. Doch sie las nicht mehr.
»Angst machen ist gut«, wiederholte er. Er schwankte, ob er ihr das Zitat über die Axt und das gefrorene Meer aus Kafkas Brief vorlesen sollte, den er einige Tage zuvor im Internet gefunden hatte.
»Wenn du beschließt, das zu veröffentlichen, musst du die Namen ändern«, erklärte Michal. »Weißt du, wie seine Eltern reagieren würden?«
Und Seev entgegnete, ohne zweimal nachzudenken: »Vielleicht werde ich es irgendwann wissen. Ich habe ihnen die Briefe geschickt.«
War es ein Fehler, ihr das zu erzählen? Später, als er auf einen Anruf von ihr wartete, auf ein Zeichen, dass sie ihn nicht verlassen hatte, dass er jetzt nicht vollkommen allein war, dachte er, er hätte dies noch länger vor ihr verheimlichen sollen. Das war die Lektion, die er lernen musste. Aber bisher war es so nie zwischen ihnen gewesen.
Michal glaubte ihm nicht, und er hätte seine Worte noch widerrufen können. »Was hast du gemacht?«, fragte sie.
Er aber wiederholte: »Ich habe ihnen die Briefe geschickt. Oder genauer gesagt, ich habe sie in ihren Briefkasten gesteckt.«
Sie weigerte sich noch immer, ihm zu glauben.
»Mach dir keine Sorgen, sie sind nicht unterschrieben. Und ich hatte keine andere Wahl, Ofers Eltern sind nun einmal die Adressaten
Weitere Kostenlose Bücher