Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
darauf in unseren Briefkasten stecken sollen.«
»Du? Wieso du denn?«, entgegnete er entgeistert. »Außerdem stimmt es nicht, dass sie mehr von mir als von Ofer handeln. Kann sein, dass sie uns beide meinen. Und außerdem sind meine Eltern ja schon tot, ich kann ihnen keine Briefe mehr schicken.«
»Aber begreifst du, dass du seinen Eltern die Briefe niemals hättest zukommen lassen dürfen, auch wenn du sie unbedingt schreiben wolltest? Siehst du den Unterschied zwischen dem Schreiben der Briefe und dem schrecklichen Fehler, den du begangen hast, als du sie ihnen in den Briefkasten geworfen hast?«
»Ich weiß nicht, ob ich im Augenblick noch irgendwelche Unterschiede sehe. Ich weiß nur, dass mir das, was ich getan habe, Angst macht. Und deine Reaktion darauf auch. Die Polizei interessiert mich nicht. Nur du.«
Er sagte das nicht, um es ihr leichter zu machen. Sondern weil er sich in jenem Augenblick tatsächlich Vergebung von ihr erhoffte, auch wenn er immer noch nicht ganz begriffen hatte, worin die Sünde bestand, die verziehen werden sollte.
»Ich bin in Ordnung, wie du siehst. Vergiss meine Reaktion. Sie können weder mir noch Ilay etwas anhaben. Ich habe nur deinetwegen Angst und versuche zu verstehen, was mit dir passiert ist, Seevi.«
Daraufhin erzählte er ihr alles. Fast alles und beinahe von Anfang an. Von der Erkenntnis, dass dies die Geschichte war, auf die er gewartet hatte, und von dem Moment, in dem er gewusst hatte, dass der Brief die richtige Form für die Geschichte war. Von dem Telefonanruf bei der Polizei erzählte er ihr nichts.
An diesem Wochenende, in einem der weniger guten Momente ihres langen Gespräches, fragte ihn Michal abermals: »Und du bist sicher, dass zwischen dir und Ofer nichts gewesen ist?«
»Genug, es reicht«, entgegnete er. »Ich bin nicht bereit, mir das anzuhören. Du stellst mir diese Frage wie in einem Verhör. Hast du deshalb Ilay bei deinen Eltern gelassen?«
»Wie bitte? Ich wollte einfach nicht, dass er hier ist!«
»Warum?«
»Vielleicht, weil ich Angst habe, dass noch dieses Wochenende die Polizei hier erscheint? Und vielleicht, weil ich jetzt nicht Mutter sein kann? Ich kann einfach nicht daran denken. Offenbar musste ich einfach mit dir allein sein.«
Ihre Worte waren für ihn unfassbar. »Danke, dass du zurückgekommen bist«, sagte er leise und überließ seinen Körper ihren Armen.
»Ich konnte mir dich hier nicht allein vorstellen. Und ich hatte Angst, du könntest irgendetwas Dummes tun.«
»Ich werde nie wieder etwas tun, ohne dich vorher um Rat zu fragen. Versprochen.« Er lächelte.
Am Montag gingen sie gemeinsam zur Polizei.
11
Die Ermittlung, zu der er zurückkehrte, war eine vollkommen andere geworden. Außerdem würde der Fall bis zu seinem Abschluss nun nicht mehr der seine sein, obgleich Avraham offiziell weiter dem Ermittlerteam vorstand und auch den Abschlussbericht abzeichnen würde, bevor dieser an die Staatsanwaltschaft ginge. Er würde sogar die Ermittlungsschritte veranlassen, die schließlich zur Aufklärung des Falls führten, die Arbeit an dem Fall selbst aber leitete er nicht mehr, auch wenn ihm nicht klar war, wer jetzt das Steuer in der Hand hatte oder ob es überhaupt jemanden gab.
Am Sonntagmorgen saß er in Ilanas Büro im Präsidium des Ayalon-Distrikts, nach drei Stunden Schlaf, und versuchte zu verstehen, was sie ihm vermitteln wollte. Ilana sagte: »Kurz gesagt, wir sind zu dem Schluss gekommen, dass sich die Ermittlung bis jetzt nur auf eine einzige Hypothese gestützt hat und nichts darauf hindeutet, dass es die richtige ist.«
Er lauschte ihren Worten mit einer Mischung aus Erstaunen und Müdigkeit.
Die El-Al-Maschine aus Brüssel war mit Verspätung auf dem Ben-Gurion-Airport gelandet, Avraham Avraham hatte fast vierzig Minuten auf seinen Koffer warten müssen und war erst nachts um halb zwei in Cholon gewesen. Seine Wohnung glänzte wie schon lange nicht mehr. Im beleuchteten Kühlschrank fand er frische Milch und einen Becher Hüttenkäse und in dem gesäuberten Gemüsefach zwei Tüten, in der einen reife Tomaten und in der anderen sechs kleine Gurken. Auf dem Esstisch lag ein Weißbrotzopf.
Er schaltete den Fernseher ein, um Stimmen zu hören, und packte seinen Koffer aus. In seiner Abwesenheit hatte seine Mutter außerdem den Kleiderschrank aufgeräumt, die blauen Uniformhemden lagen jetzt sorgfältig gefaltet in einem eigenen Fach. Nur die grüne Bettwäsche, die sie nicht gewechselt hatte,
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