Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
nicht bis zu seiner Rückkehr gewartet hatte. Aber es hatte keinen Sinn, danach zu fragen, oder vielleicht hatte er momentan auch einfach nicht die Kraft dazu. Hauptsache, die Vernehmung der Eltern blieb ihm überlassen.
Die Sonnenblenden an dem Balkon der Sharabis standen offen. Aber es war niemand zu sehen. Er hätte hinaufgehen und bei ihnen klopfen können, aber er war zu müde und zu aufgewühlt und wusste noch nicht, wie er ihre Versionen »mit Fingerspitzengefühl abklopfen« sollte.
Die Klimaanlage kühlte den Innenraum des Streifenwagens kräftig herunter, aber das Lenkrad glühte in der Sonne. Fahrer, die ihn passierten, bremsten ab, weil sie dachten, in seinem Wagen wäre eine Radarkamera installiert. Ein Briefträger mit der sperrigen roten Posttasche über der Schulter kam über die Straße und ging von einem Haus zum nächsten. Er erinnerte sich nicht daran, ob der Balkon von Seev Avni ebenfalls zur Straße hinausging.
Neben ihm hielt ein Wagen. Der Fahrer bedeutete ihm, die Seitenscheibe herunterzulassen, und fragte nach dem Weg nach Asor. Genau in dem Augenblick sah er Hannah Sharabi. Sie trat aus dem Haus, wandte sich nach links und ging langsam die Straße hinunter. In der Hand hielt sie ein Portemonnaie. Sie trug graue Jogginghosen, ein gelbes T-Shirt und an den Füßen Flipflops. Sie betrat den Laden, in dem Ofer jeden Morgen eingekauft hatte. Kurz darauf kam sie mit zwei rosafarbenen Tragtaschen wieder heraus und ging zurück zum Haus. Das Portemonnaie lag offenbar in einer von ihnen bei den Einkäufen.
Die Aushänge mit dem Foto von Ofer hingen noch immer an den Strommasten entlang der Straße, doch Hannah Sharabi beachtete sie nicht. Avraham beobachtete sie, bis sie die Haustür öffnete und das Treppenhaus betrat. Dann fuhr er nach Hause.
Er verschlief den ganzen Nachmittag und wachte erst auf, als es mit einem Mal dunkel geworden war. Am Abend rief er Rafael und Hannah Sharabi an und teilte ihnen mit, dass er aus Brüssel zurück war. Er bat sie, am nächsten Tag gegen Mittag noch einmal aufs Revier zu kommen, um sie über den gegenwärtigen Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen zu können und gemeinsam mit ihnen die Liste der Gegenstände durchzugehen, die sich in Ofers Rucksack befunden hatten.
Danach rief er Seev Avni auf dessen Mobiltelefon an. Seine Frau meldete sich, und er meinte, ein Zittern in ihrer Stimme zu hören, als sie, nachdem er seinen Namen genannt hatte, nach ihrem Mann rief. Dann vernahm er Avnis Stimme und bat ihn, sich am nächsten Morgen um acht zu einem Treffen in seinem Büro einzufinden. Dabei dachte er, dass er vielleicht auch die Frau zu einer weiteren Befragung einbestellen sollte.
Sein Computer stand auf einem weißen Regal in dem kleinen Raum, der ihm als Arbeitszimmer und Abstellkammer diente. Er setzte sich davor und entnahm der Ermittlungsakte die Zusammenfassungen der Zeugenaussagen und seine eigenen Notizen. Unter den Papieren fand er die Mitschrift des Gesprächs, das Eliyahu Maalul mit Litel Aharon geführt hatte, dem Mädchen, mit dem Ofer am Freitag ins Kino hätte gehen sollen, und auch die Kopie des Stundenplans, den er selbst an ebenjenem Freitag aus Ofers Zimmer mitgenommen hatte, als er bei der Mutter gewesen war.
Er wollte Marianka schreiben, wusste aber nicht, was. Sein Vater rief an, um sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen, und fragte, wie es in Brüssel gewesen sei. Dann schlug er vor, Avraham solle doch zum Abendessen zu ihnen kommen, aber er lehnte ab, sagte, er habe zu viel zu tun.
»Du klingst sehr müde«, meinte sein Vater.
»Ich bin eben erst aufgewacht. Habe heute Nacht wegen des Flugs fast nicht geschlafen und war morgens schon im Büro.«
»Gut, wir sind ja hier, falls du doch noch beschließt zu kommen. Mama ist gerade beim Walken, sie kommt aber gleich zurück. Hast du gesehen, was sie dir gekauft und in den Kühlschrank gelegt hat?«
Was konnte er Marianka schreiben? Natürlich würde er ihr für die Sightseeingtour danken, aber was noch? Er leerte den Aschenbecher in den Mülleimer und goss sich ein Glas Wasser ein.
Liebe Marianka , begann er auf Englisch. Ich bin nach Israel zurückgekehrt und arbeite wieder an dem Fall des vermissten Jungen, von dem ich Dir erzählt habe (der Junge, der sich vielleicht in Koper befindet). Ich wollte Dir noch einmal für die Tour durch Brüssel danken. Ohne Dich hätte ich den Leuten hier nichts zu erzählen gehabt, die mich seit dem Morgen fragen, wie die Stadt aussieht
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