Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
und was man dort unternehmen kann. Wie geht es Dir? Bis Du wieder bei der …
Er löschte alles, was er geschrieben hatte. Sie war noch nicht wieder bei der Arbeit, dort war ja Sonntag.
Er rief Jean-Marc Karot an, doch nur der Anrufbeantworter sprang an. Er hinterließ keine Nachricht.
Dann machte er sich erneut daran, ein paar Zeilen auf Englisch zustande zu bringen: Marianka, ich schreibe Dir, um Dir noch einmal für die Tour durch Brüssel zu danken. Das war das erfreuliche Ende einer Woche, die nicht immer leicht gewesen war. Ich hoffe, ich habe Euch nicht zu viel von Eurem Wochenende geraubt und dass Ihr einen schönen Sonn…
Er gab auf und löschte die furchtbar langweiligen und verlogenen Zeilen.
Es noch einmal zu versuchen, hatte keinen Sinn.
12
Seev würde niemals vergessen, wie sich an diesem Morgen der strahlend blaue Himmel über ihnen erstreckte und eine angenehme Brise sie auf ihrem Weg begleitete. Die stickige, schwüle Hitze war über Nacht abgezogen.
Sie nahmen nicht den direkten Weg, sondern gingen durch die Chenkin, und Seev ließ sich an einem der runden Metalltische von Joe’s Café vor dem Einkaufszentrum nieder. Michal verschwand im Café und kam mit zwei Bechern Kaffee und zwei Croissants zurück, einem mit Butter für sie und einem mit Mandeln für ihn. Am Nebentisch saß eine Frau um die vierzig und sah die Stellenanzeigen in der Zeitung durch.
Sie aßen und tranken schweigend, bis Michal fragte: »Machst du dir Sorgen?«
Seev lächelte und antwortete: »Ja, aber ich bin bereit.«
Am Abend zuvor hatten sie kaum noch darüber gesprochen, was am nächsten Tag passieren würde. Es gab nichts mehr zu sagen. Ilay war wieder zu Hause, und die beiläufigen Gespräche über andere Themen hatten bei beiden das Gefühl verstärkt, ihr Leben hätte sich nicht verändert, oder sie hatten zumindest die Angst vertrieben, es könnte doch etwas anders geworden sein.
Michal war das ganze Wochenende über wunderbar zu ihm gewesen, da er für sich behalten hatte, was er insgeheim noch immer bezweifelte: War das Schreiben von Briefen oder gar das Verschicken wirklich ein Verbrechen?
Er spürte die innere Anspannung unter der Gelassenheit, die Michal ihm zuliebe versuchte, zur Schau zu stellen, und manchmal sah er, dass sie den Tränen nahe war, sich aber mit Macht und gewaltiger Willensstärke gegen den Dammbruch stemmte. Die Krise machte ihm klar, wie viel Kraft in ihr steckte. Dies war das größte Geschenk in ihrer Beziehung.
An noch etwas würde sich Seev immer erinnern: wie ein Sonnenstrahl auf die Laken schien, als er in ihren Armen erwachte. Sein Kopf ruhte auf ihrer rechten Schulter, die ein verschossenes altes T-Shirt bedeckte. Er schlug die Augen auf und wusste sogleich, was ihn an diesem Tag erwartete. Ärger stieg in ihm auf. Er betrachtete die schlafende Michal, und ihm war klar, dass es keinen Ausweg gab. Beide hatten sie schon bei ihren Schulen angerufen und sich für heute abgemeldet.
Um Viertel nach sieben kam Michals Mutter, um bei Ilay zu bleiben, obwohl es nicht ihr fester Tag war. Ilay streckte seine kleinen Händchen nach seinem Vater aus und versuchte, sich aus den Armen seiner Großmutter zu befreien, als sie gehen wollten. Seev trat ganz nah an den Jungen heran und wollte ihm etwas ins Ohr flüstern, ließ es dann aber bleiben. Zusammen mit Michal verließ er die Wohnung, es war das erste Mal, seit sie von den Briefen erfahren hatte. Seev betete inständig, sie würden Ofers Eltern nicht im Treppenhaus oder auf dem Parkplatz begegnen, mehr um Michals willen als um seiner selbst.
Als sie vor dem Polizeirevier standen, sagte Michal: »Wir haben noch nicht besprochen, ob ich hier auf dich warten soll oder irgendwo anders.«
Seev erwiderte: »Warte nicht. Wer weiß, wie lange es dauern wird. Ich rufe an, sobald ich rauskomme, und wenn nicht, werden sie mich hoffentlich telefonieren lassen.«
»Gut, vielleicht geh ich nach Hause, ich bin mir nicht sicher. Hab keine Angst, Seevi. Was immer auch sein wird, ich bin bei dir.«
Sie wartete vor dem Eingang, bis er das Revier betreten und die schwere Glastür hinter sich geschlossen hatte.
Was Seev an diesem Tag davor bewahrte, sich dem enormen Druck zu beugen, der auf ihn ausgeübt wurde, war – neben dem Gedanken an Michal – die Tatsache, dass er bereit und gerüstet erschienen war. Fast nichts konnte ihn im Verlauf der Vernehmung überraschen, abgesehen von deren Ende, das er nicht hatte voraussehen können. In Büchern
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