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Axis

Axis

Titel: Axis Kostenlos Bücher Online Lesen
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Im Umkreis von etlichen Kilometern begann die Asche in ein neues Stadium ihres Stoffwechsels zu treten. Das würde einige Zeit dauern. Isaac konnte es sich leisten, geduldig zu sein.
    Er überraschte Sulean Moi und Mrs. Rebka damit, dass er über die herabgestürzten Balken kroch, über Bruchstücke von Wänden, zerbröselten Isolierschaum und verstreutes Aluminium, bis zu der Stelle, wo Diane Dupree lag. Seine Lunge rasselte und im Mund hatte er einen fauligen Geschmack, aber wenigstens konnte er atmen, was Diane offenbar nicht möglich war. Als er dann die Hand nach ihr ausstreckte, stellte er fest, dass die Trümmer sie auch am Kopf verletzt hatten. Er wollte ihr übers Haar streichen, so wie Mrs. Rebka es bei ihm machte, wenn er krank war, doch die Stelle über Dianes linkem Ohr gab bei der Berührung nach, und als er die Hand wegzog, war sie ganz klebrig.
     
    Tyler Dupree war vor zwei Jahren an einem Augusttag gestorben, dem langen äquatorianischen August.
    Sie waren einen der gewundenen Bergkämme vor der Küste hinaufgewandert, einzig zu dem Zweck, dort oben zu sitzen und zu sehen, wie der Wald zum Meer hinabfiel wie ein dunkelgrünes Baumwolltuch.
    Beide waren sie nicht mehr jung, beide hatten sie ihr Leben als Vierte beinahe ausgeschöpft. In letzter Zeit klagte Tyler häufig über Müdigkeit, aber er behandelte weiterhin seine Patienten, die jungen Männer, die als Abwracker arbeiteten, und die Minang aus dem Dorf, in dem sie sich niedergelassen hatten. An diesem Tag hatte er erklärt, dass er sich gut fühle, und darauf beharrt, die lange Wanderung zu unternehmen – er hatte sie als »das Urlaubähnlichste, was ich in absehbarer Zeit bekommen werde« bezeichnet. Also war Diane mit ihm gegangen, hatte sich am Schatten unter den Bäumen und an den strahlenden Wiesen erfreut und war wachsam gewesen, hatte ihn genau im Auge behalten.
    Die Vierten hatten einen so robusten wie fein ausbalancierten Stoffwechsel. Man konnte ihm einiges zumuten, doch wie alles Körperliche erreichte er irgendwann einen Punkt, wo es nicht weiterging. Das Alter konnte nicht unendlich hinausgeschoben werden, weil die Behandlung selbst alterte. Wenn Lebensfunktionen von Vierten nachließen, dann meistens auf breiter Front.
    So war es auch bei Tyler.
    Vielleicht hatte er damals gewusst, dass es so weit war, hatte deswegen auf der Wanderung bestanden.
    Sie kamen an einen Platz, den er liebte, aber nur selten Zeit hatte zu besuchen, einen Streifen aus Granit und Berggras. Sie breiteten eine Decke aus, und Diane öffnete den Rucksack und holte die Köstlichkeiten hervor, die sie für diese Gelegenheit aufbewahrt hatte: australischen Wein, Brot aus Port Magellan, Roastbeef – alles Dinge, die den Essgewohnheiten der Minang, an die sie sich angepasst hatten, fremd waren. Doch Tyler hatte keinen Hunger. Er legte sich auf den Rücken, bettete seinen Kopf auf ein Stück Moos. Er war dünn geworden, dachte sie, seine Haut war blass, er sah beinahe elfenhaft aus.
    »Ich glaube, ich werde ein wenig schlafen«, sagte er. Und in diesem Moment, in der Augustsonne, umgeben vom Geruch der Felsen, des Wassers, der schwarzen Erde, wurde ihr klar, dass er sterben würde.
    Ein Teil von ihr wollte ihn retten, wollte ihn den Berg hinuntertragen, so wie er sie einst, als sie todkrank gewesen war, durch ganz Amerika getragen hatte. Aber es gab keine Heilung – die Vierten-Behandlung konnte man nur einmal machen.
    Sie kniete sich hin und streichelte seinen Kopf. Sie sagte: »Brauchst du irgendetwas?« Und er sagte: »Ich bin hier vollkommen zufrieden.«
    Also legte sie sich neben ihn und hielt ihn in den Armen, während der Nachmittag verstrich. Dann, als es Zeit war, nach Hause zu gehen, erhob sich Diane.
    Ich bin hier vollkommen zufrieden.
    Aber war das jetzt Jason bei ihr in der Dunkelheit? Ihr Bruder, der vor vielen, vielen Jahren gestorben war? Nein, es war der seltsame Junge, Isaac, er klang nur nach Jason…
    »Ich kann mich an dich erinnern, Diane. Wenn es das ist, was du willst, dann kann ich es tun.«
    Sie begriff, was er ihr anbot. Die Hypothetischen erinnerten sich an Jason, so wie sie, aber das lange, langsame Gedächtnis der Hypothetischen war weniger vergänglich, es hatte über Millionen von Jahren Bestand. Wollte sie zu ihm gehen?
    Sie holte Luft, gerade genug, um ein einziges Wort hervorzupressen: »Nein.«

 
28
     
     
    Turk schlief, als das Erdbeben begann. Sie hatten Matratzen auf dem Fußboden ausgebreitet und sich schlafen gelegt,

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