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Axis

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Titel: Axis Kostenlos Bücher Online Lesen
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hier draußen waren. Und die Asche schaffte es ohnehin, nach innen zu gelangen, sich durch die Risse zu drängen. Kleine Teilchen schwebten im Strahl der Taschenlampe, der Gestank durchdrang die Luft, ihre Kleidung, ihre Körper.
    Schließlich machten sie in einer Wohnung im zweiten Stock Pause, deren Fenster so gelegen waren, dass sie von dort aus die Situation draußen abschätzen konnten – falls der nächste Morgen, dachte Lise, je anbrechen, falls das Sonnenlicht sie je wieder erreichen würde. Turk öffnete eine Dose Corned Beef und servierte es auf Plastiktellern, die er in einem der Küchenschränke gefunden hatte.
    Ölarbeiter lebten wie Studenten am College, so Lises Eindruck. Zornige, depressive Studenten: die leeren Flaschen, wahllos verstreut, die sich in den Ecken stapelnden Kleiderhaufen, die nackten Matratzen und zerfledderten Zeitschriften, in denen den »größten Brüsten der Welt« gehuldigt wurde.
    Dvali redete über Isaac. Er redete schon seit Stunden über Isaac, hatte Lise das Gefühl, darüber, was dieses Ereignis »für seinen Status als Kommunikant« bedeuten konnte. Allmählich klang das alles mehr als nur ein bisschen wahnsinnig.
    »Wenn Ihnen so viel an ihm gelegen ist«, unterbrach sie ihn nach einer Weile, »hätten Sie ihm da nicht wenigstens einen Nachnamen geben können?«
    Dvali sah sie überrascht an. »Wir haben ihn gemeinschaftlich aufgezogen. Anna hat ihm den Namen Isaac gegeben, das schien ausreichend.«
    »Sie hätten ihn Isaac Hypothetisch nennen können«, sagte Turk. »Nach seiner Herkunft väterlicherseits.«
    »Sehr lustig«, knurrte Dvali. Immerhin hielt er jetzt den Mund.
    Die Asche fiel dichter als je zuvor, ein Vorhang aus glitzerndem Grau. Mehr als in Port Magellan, dachte Lise. Mehr als in Bustee.
    Sie verzichtete darauf, sich vorzustellen, was daraus alles hervorkommen mochte.
     
    Es dauerte lange, bis sich die Luft im Lagerraum des Supermarktes gesetzt hatte. Irgendwann bemerkte Diane, dass ihre Lunge weniger schmerzte, ihr Hals weniger wund war, ihr Schwindelgefühl erträglicher wurde.
    Wie viel Zeit war vergangen, seit der Sturm begonnen hatte? Zwei Stunden? Zehn? Sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Es gab kein Sonnenlicht mehr, genauer gesagt, gab es gar kein Licht mehr. Sie hatten keine Möglichkeit gehabt, die Taschenlampen aus dem Auto mitzunehmen, und das Einzige, was sie – tastend, nach der Erinnerung – im Lagerraum gefunden hatten, waren einige Softdrinks, mit denen sie sich die Asche aus dem Mund spülen konnten. Die warme Flüssigkeit schäumte auf der Zunge, vermischte sich mit den eingeatmeten Teilchen, was furchtbar schmeckte, aber wenn man genug davon trank, konnte man zumindest wieder sprechen.
    Die drei Frauen waren um Isaac versammelt, der auf dem Betonboden lag. Er hatte einige Male aus einer der Flaschen genippt, doch sein Fieber war wieder gestiegen – er strahlte eine erschreckende Hitze ab – und seit Beginn des Ascheregens hatte er nicht mehr gesprochen.
    Wir sind wie die Hexen in »Macbeth«, dachte Diane, und Isaac ist unser brodelnder Kessel.
    Anna Rebka streichelte ihm über die Stirn. »Isaac, kannst du mich hören?«
    Seine Reaktion bestand in einem Regen der Arme und Beine und einem schwachen Murmeln, das Bestätigung ausdrücken mochte.
    Diane war bewusst, dass sie hier vielleicht sterben würden, sie alle. Der Gedanke an den Tod verstörte sie nicht übermäßig, wenn sie auch den damit möglicherweise verbundenen Schmerz fürchtete. Einer der Vorzüge der Viertheit – und sie waren alle Vierte in diesem Raum, auch Isaac – lag darin, dass sie die Angst vor dem Sterben deutlich dämpfte. Schließlich lebte sie schon sehr lange, trug Erinnerungen an die Zeit vor dem Spin in sich, die Erde, wie sie sie als Kind, wie sie sie in ihrer letzten Nacht gesehen hatte: ein Haus, eine große Rasenfläche, der Himmel. Damals, als sie noch an Gott geglaubt hatte – einen Gott, der der Welt Sinn verleiht, indem er sie liebt.
    Der Gott, der ihr heute fehlte. Vielleicht auch der Gott, den Avram Dvali beschworen hatte, als er Isaac erschuf. Sie hatte das alles schon erlebt, diese Sehnsucht nach Erlösung, hatte mit ihr gelebt, hatte sie gelebt. Diese Sehnsucht hatte ihren Bruder Jason ebenso angetrieben wie sie, und Jasons Obsession war der Dvalis sehr ähnlich gewesen – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Jason am Ende nicht ein Kind, sondern sich selbst geopfert hatte.
    Isaacs Atmung ging nun regelmäßiger, und sein

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