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Axis

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Titel: Axis Kostenlos Bücher Online Lesen
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– Isaac und die Hypothetischen.
    Wie sie allerdings zum Einkaufszentrum gelangen sollten, wo sie den Jungen und die Frauen zurückgelassen hatten, war eine offene Frage. Beim Blick nach draußen hatte Lise eine veränderte Landschaft vorgefunden, hatte etwas gesehen, das sie als Blätterdach von Bäumen bezeichnet hätte – wenn Bäume aus glänzenden Röhren und funkelnden Bällen bestehen würden.
    Und noch einmal stellte sie die gleiche unsinnige Frage: »Was geschieht hier?«
    »Das werden wir noch herausfinden«, erwiderte Dvali.
     
    Wenn die Vergangenheit der Maßstab war, dachte Turk, dann würden die Gewächse der Hypothetischen kein Interesse an Menschen zeigen – mit Ausnahme von Isaac, der allerdings nur zum Teil ein Mensch war.
    Aber galt das noch immer?
    Er öffnete die Tür einen Spalt breit und riskierte einen Blick nach draußen.
    Kühle Luft berührte sein Gesicht. Der Schwefelgestank war verschwunden. Auch die Asche war verschwunden. Sie hatte sich in einen Technicolor-Wald verwandelt. Verglichen damit waren die Gewächse in Bustee Osterglocken gewesen. Das hier war Sommer. Das hier war der Garten Eden der Hypothetischen.
    Es war ein Wald aus acht bis zehn Meter hohen Stängeln, die statt Blättern kugelförmige Früchte trugen, mehrfarbig waren, aber überwiegend blaustichig, und so dicht beieinanderstanden, dass man, um hindurchzugehen, sich seitwärts drehen musste. Auch die Kugeln, ganz unterschiedlich groß, drängten sich aneinander, sanft nachgebend, wo sie sich berührten, und bildeten so eine nahezu feste Masse. Das Sonnenlicht schimmerte in allen Regenbogenfarben durch sie hindurch.
    Zaghaft machte Turk ein, zwei Schritte. Die Stämme der Bäume – ebenso hätte man sie auch als Laternenmasten bezeichnen können – wurzelten in der Erde; wo Beton gewesen war, hatten sie ihn aufgebrochen. Turk konnte in keine Richtung weit genug sehen, um sich wirklich orientieren zu können – nach vierzig bis fünfzig Metern verschwamm alles in einem blauen Schimmer. Um das Einkaufszentrum zu finden, müssten sie wohl auf den Kompass zurückgreifen.
    »Wovon leben sie?«, fragte Lise mit gedämpfter Stimme. »Es gibt hier kein Wasser.«
    »Vielleicht mehr als an den Orten, wo sie normalerweise wachsen«, erwiderte Turk.
    »Oder sie verwenden irgendeinen katalytischen Prozess, der kein Wasser benötigt«, sagte Dvali. »Eine völlig andere Art von Stoffwechsel. Sie müssen sich über eine Milliarde Jahre in einer Umgebung entwickelt haben, die wesentlich unwirtlicher ist als diese hier.«
    Eine Milliarde Jahre Evolution. Wenn das stimmte, dachte Turk, dann waren diese Dinger – als Spezies, wenn dieser Ausdruck angemessen war – älter als die Menschheit.
     
    Schweigend gingen sie durch den Wald der Hypothetischen. Sie spürten keinen Wind, aber irgendwo musste einer wehen, denn die irisierenden Kugeln über ihnen stießen immer wieder gegeneinander und erzeugten dabei ein sanftes Geräusch, wie wenn man mit einem Gummischlegel auf ein Holzxylofon schlägt. Weiter unten gab es ebenfalls Bewegung: Dünne blaue Röhren schlängelten sich zwischen den Bäumen, vollführten peitschenartige Bewegungen, die so schnell und wuchtig waren, dass man ihnen besser aus dem Weg ging. Und zweimal sah Turk papierene Objekte über ihren Köpfen flattern, die nach einer Weile mit den Kugeln verschmolzen – Variationen jenes Dings, das in Bustee Isaac attackiert hatte.
    Lise war dicht hinter ihm. Jedes Mal, wenn etwas knackte, hörte er, wie sie den Atem einzog. Er wandte sich zu ihr um. »Tut mir leid, dass ich dich in diese Sache mit reingezogen habe.«
    Sie sah ihn erstaunt an. »Glaubst du im Ernst, dass du irgendwie verantwortlich bist für das, was hier passiert ist?«
    »Zumindest habe ich dich auf diese bescheuerte Reise nach Westen mitgeschleppt.«
    »Das war meine eigene Entscheidung.«
    Trotzdem, dachte Turk. Sie war seinetwegen hier. Vor seinem geistigen Auge erschienen all die verlorenen, verlassenen Geliebten, die zu Feinden gewordenen, die verletzten oder zu Tode gekommenen Freunde seines Lebens. Die Spur der Verwüstung, der Pfad der Tränen. Das wollte er Lise ersparen, wollte sie nicht aus einem Leben reißen, das sinnvollere Perspektiven bot, als nächtelang im Cockpit eines Flugzeugs, monatelang unter Deck eines stinkenden Frachters, jahrelang im Käfig des eigenen Kopfes eingeschlossen zu sein.
    Er würde sie aus diesem Dschungel führen, dachte er, und dann, wenn er den Mut – oder die

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