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Axis

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Titel: Axis Kostenlos Bücher Online Lesen
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Leben erschien ihr leer ohne ihn. Immer wieder wanderte sie an seinem Zimmer vorbei und zuckte zusammen, wenn sie ihn weinen oder rufen hörte.
    Die Situation blieb etliche Tage lang unverändert. Draußen in der Wüste, berichtete ihr Betreuer, waren die Ab-ashken- Gewächse erblüht und begannen schon wieder zu verwelken, da sie in keiner Weise an die hiesige Umgebung angepasst waren. Aber Eshs Verzweiflung wuchs dadurch nur noch mehr.
     
    »Diese Gewächse, waren die gefährlich?«, fragte Dr. Dvali.
    »Nein. Dafür lebten sie nicht lange genug.«
    Wie Gewächshausblumen, dachte Sulean, die in ein falsches Klima, eine falsche Erde verpflanzt werden.
     
    Und dann sah sie Esh zum letzten Mal.
    An jenem Morgen ging sie spazieren, wo sie früher immer mit ihm gegangen war. Ihr Aufpasser hielt sich in diskreter Entfernung, er wusste, dass sie beunruhigt war und Zeit für sich brauchte.
    Es war wieder ein sonniger Tag, die Felsen warfen tiefe Schatten über den Sand. Sulean wanderte ziellos herum, dachte an nichts Bestimmtes – gab sich, genauer gesagt, große Mühe, nicht an Esh zu denken –, als sie ihn plötzlich sah: wie eine Fata Morgana, im Schatten eines Felsbrockens hockend, nach Süden gewandt.
    Das war ganz und gar unerklärlich. Panisch drehte sich Sulean zu ihrem Aufpasser um, doch der alte Mann ruhte sich gerade im Schatten der Südmauer aus, er hatte Esh nicht gesehen.
    Langsam näherte sie sich dem Jungen, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu verschrecken. Esh blickte mit traurigen Augen aus seinem Versteck.
    Schließlich bückte sie sich, als würde sie ein Stück Schiefer oder einen Sandfloh untersuchen, und flüsterte: »Wie bist du rausgekommen?«
    »Erzähl es niemandem.«
    »Nein, natürlich nicht. Aber wie…«
    »Es hat gerade niemand geguckt. Sieh mal, ich habe mir einen Kittel geklaut.« Er hob die Arme – er trug die gleißend weiße Wüstentracht einer weitaus größeren Person. »Ich bin über die nördliche Brüstung gegangen, dort, wo sie die Felswand berührt, und dann runtergeklettert.«
    »Aber was tust du hier draußen? In ein paar Stunden wird es dunkel.«
    »Ich tue das, was ich tun muss.«
    »Du brauchst Wasser und etwas zu essen.«
    »Ich komme ohne aus.«
    »Nein, kommst du nicht.« Sulean gab ihm die Wasserflasche, die sie immer dabei hatte, wenn sie die Station verließ, und einen Energieriegel, den sie sich aufgespart hatte.
    »Sie werden bald merken, dass ich weg bin. Verrate nicht, dass du mich gesehen hast.«
    Es war das längste Gespräch, das sie beide je geführt hatten, geradezu ein Strom von Worten. »Ja, mach ich. Ich meine, mach ich nicht. Ich erzähle es niemandem.«
    »Danke, Sulean.«
    Eine weitere Neuheit: das erste Mal, dass er ihren Namen aussprach, vielleicht das erste Mal, dass er überhaupt einen Namen aussprach. Das war nicht nur Esh, der da vor ihr im Sand kauerte – das war Esh plus irgendetwas anderes.
    Die Ab-ashken, dachte sie.
    Die Hypothetischen waren in ihm, sahen durch seine veränderten Augen nach draußen.
    Irgendwo in der Station begann eine Glocke zu läuten, und Suleans schläfriger Aufpasser rief nach ihr. »Lauf«, flüsterte sie dem Jungen zu.
    Sie wartete nicht ab, ob er ihrem Rat folgte. Sie drehte sich um und ging, als wäre nichts geschehen, zur Station zurück, und sie sagte kein Wort, so als hätte das Schweigen, in dem Esh so viele Jahre verharrt hatte, nun auch ihre Stimme zum Verstummen gebracht.
     
    »Er wollte also die herabgefallenen Artefakte finden – aber was dann?«, fragte Dr. Dvali.
    »Ich weiß nicht. Der gleiche Instinkt oder die gleiche Programmierung, die die hypothetischen Replikatoren veranlasst, Cluster zu bilden, Informationen auszutauschen und sich zu vermehren, könnte auch bei dem Jungen gewirkt haben. Die Krise wurde durch die Nähe zu den Apparaturen verursacht.«
    »So wie bei Isaac.«
    »Möglicherweise.«
    »Ihr Volk muss sich diese Fragen gestellt haben.«
    »Ja. Aber ohne eine Antwort darauf zu finden.«
    »Sie haben gesagt, dass der Junge starb.«
    »Ja.«
    »Erzählen Sie uns, wie.«
    Muss ich das? Muss ich das alles noch einmal ertragen?
    Sie musste es. An diesem wie auch an jedem anderen Tag.
     
    Seit Stunden wurde Esh vermisst, und es war längst dunkel geworden, als Suleans Entschlossenheit schwand. Entsetzt von der Vorstellung, dass er die Nacht ganz allein draußen verbringen musste, verunsichert durch die völlige Ratlosigkeit, die die Station erfasst hatte, ging sie zu dem Mann, den sie

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