Ayesha - Sie kehrt zurück
müssen sterben, doch bevor der Tod mich ereilt, wäre ich eine Weile mit dir glücklich gewesen – ja, und sei es nur für eine kurze Stunde.«
»Oh, wenn ich es nur wagen könnte«, sagte Ayesha mit einer kleinen Geste der Verzweiflung. »Bitte, dränge mich nicht weiter, Leo, damit ich mich nicht doch dazu bewegen lasse, dieses Risiko einzugehen und dich in den Abgrund zu reißen! Leo, hast du noch nie davon gehört, daß Liebe töten kann, oder daß im Becher übergroßer Freude ein vergifteter Trank sein mag?«
Nach diesen Worten sprang Ayesha auf und floh aus dem Raum, wie von einer entsetzlichen Angst getrieben.
So ging diese Angelegenheit zu Ende. Für sich selbst genommen war sie unbedeutend, denn Leos Wunden waren kaum mehr als Kratzer, und die Jäger wurden nicht getötet, sondern befördert und zu Leos Leibwache ernannt. Und doch hat sie uns einige wichtige Dinge gelehrt. Zum Beispiel, daß Ayesha, wann immer sie es wollte, die Gabe besaß, alles Tun Leos zu beobachten, und diese Fähigkeit sogar auf andere übertragen konnte. Doch schien es nicht in ihrer Macht zu liegen, ihm in einer Notlage helfen zu können, ein Umstand, der natürlich für ihre ständige Angst um ihn verantwortlich war.
Der Leser sollte sich einmal vorzustellen versuchen, wie es wäre, wenn einer von uns auf eine mysteriöse Weise von jeder Gefahr, von jeder drohenden Krankheit wüßte, die dem geliebtesten Menschen bevorsteht: den Felsblock schwanken und fallen zu sehen, unter dem er ahnungslos schlendert; ihn aus einem Brunnen trinken zu sehen und zu wissen, daß sein Wasser vergiftet ist; ihn an Bord eines Schiffs gehen zu sehen und zu wissen, daß es sinken wird, ohne in der Lage zu sein, ihn zu warnen oder ihn daran zu hindern. Ich bin sicher, daß kein Mensch diese ständigen, endlosen Schrecken ertragen könnte, denn zu jeder Minute fliegen die Pfeile des Todes unsichtbar und unhörbar an der Brust eines jeden Menschen vorbei, bis schließlich einer von ihnen sein Ziel findet.
Was muß also Ayesha gelitten haben, wenn sie mit den Augen ihrer Seele all die Gefahren sehen konnte, denen wir während unserer langen Reise ausgesetzt gewesen waren? Was muß sie empfunden haben, als sie, zum Beispiel, sah, wie Leo sich in dem Haus in Cumberland aus Verzweiflung umbringen wollte und sie es nur verhindern konnte, indem sie durch eine übermenschliche Willensleistung – oder durch eine Gnade jener Macht, die sie in ihrer furchtbaren Knechtschaft hielt – ihre Seele um die halbe Welt schickte und Leo im Schlaf den Ort zeigte, an dem er sie finden würde.
Oder, um noch ein Beispiel von vielen zu nehmen: als sie ihn an dem dünnen Riemen aus Yakfell am Gletscher hängen sah und nicht in der Lage war, ihm zu helfen, oder auch nur eine Sekunde weit in die Zukunft blicken zu können und so zu erfahren, ob er einen schrecklichen Tod finden und sie dazu verurteilt sein würde, weiter in Einsamkeit zu leben, bis er wiedergeboren würde.
Und ihre Ängste wurden nicht nur durch diese physischen Gefahren hervorgerufen. Man versuche sich vorzustellen, was sie empfunden haben mag, als sie ihren Geliebten den Verführungskünsten einer Frau ausgeliefert sah, besonders, da diese Frau ihre uralte Rivalin Atene war, die nach Ayeshas eigenen Worten einst seine Frau gewesen. Man versuche sich vorzustellen, welche Angst sie davor gehabt haben muß, daß die Zeit und die Veränderung des Menschen ihre normale Wirkung auf Leo ausüben könnten, so daß im Lauf der Jahre seine Erinnerung an ihre Weisheit und Macht und ihre Schönheit verblassen könnte – und mit ihr auch sein Wunsch, sie wiederzufinden, und er sie, die so lange gelitten hatte, vergessen und ihrer Einsamkeit überlassen würde.
Wahrlich, die Macht, die unsere Wahrnehmungsfähigkeit beschränkt, tut dies aus sehr guten Gründen, denn wenn dem nicht so wäre, würden die Menschen vom Wahnsinn gepackt werden und vor Angst und Schrecken sterben.
Deshalb kam ich zu der Erkenntnis, daß Ayesha, diese große, von tausend Ängsten gepeinigte Seele, die erhoffte, ewige und strahlende Liebe zu finden, in Wirklichkeit nur eine andere, blinde Pandora war. Unter der gestohlenen Hülle äußerer Schönheit und übermenschlicher Kräfte lebten hundert quälende Dämonen, von denen normale Sterbliche nur manchmal den eisigen Hauch ihrer Flügelschläge spüren.
Ja, und um die Parallele zu vervollständigen: die Hoffnung allein hielt diese gequälte Seele aufrecht.
20
Ayeshas
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