Ayesha - Sie kehrt zurück
verborgenen Kräfte der Natur war, die wir bald in ihrer schrecklichsten Form kennenlernen sollten.
21
Die Prophezeiung von Atene
An dem Tag, der dem beeindruckenden Erlebnis der Verwandlung von Eisen in Gold folgte, fand im Tempel eine große Zeremonie statt, die ›Einsegnung des Krieges‹, so weit wir es verstanden. Wir nahmen nicht daran teil, aßen jedoch später, wie üblich, mit Ayesha zu Abend. Sie schien sprunghaft und launisch, das heißt, ihre Stimmung wechselte zwischen Depression und Fröhlichkeit.
»Wißt ihr«, sagte sie, »daß ich heute ein Orakel war, und die Narren ihre Medizinmänner zu mir schickten, um die Hesea zu befragen, wie die Schlacht ausgehen würde, und welche von ihnen getötet werden und welche Ruhm und Ehre gewinnen würden? Und ich ... ich konnte es ihnen nicht sagen, doch ich formulierte meine Antworten so, daß sie sich jeder auslegen kann, wie er will. Wie die Schlacht ausgehen wird, weiß ich natürlich sehr genau, denn ich werde sie führen. Doch die Zukunft ... – ah! Die kann ich um keinen Deut besser lesen als du, mein lieber Holly, und das ist wahrlich nicht viel. Für mich liegen Vergangenheit und die ganze Gegenwart in dem Licht dieser schwarzen Wand – der Zukunft.«
Dann verfiel sie für eine lange Zeit in grüblerisches Schweigen.
Schließlich blickte sie auf und sagte in einem fast flehenden Tonfall zu Leo: »Willst du mir meine Bitte nicht erfüllen und für ein paar Tage hierbleiben oder auf die Jagd gehen? Wenn du bleibst, werde auch ich bleiben und Holly und Oros hinausschicken, um die Stämme bei diesem kleinen Kampf zu kommandieren.«
»Ich denke nicht daran«, sagte Leo, vor Empörung zitternd, denn Ayeshas Vorschlag, daß ich in den Krieg geschickt werden sollte, während er in der Sicherheit des Tempels zurückblieb, trieb diesen Mann, dessen Tapferkeit oft an Tollkühnheit grenzte, und der, obwohl er den Krieg theoretisch verdammte, doch den Kampf um seiner selbst willen liebte, in größte Wut.
»Ich denke nicht daran, Ayesha«, sagte er noch einmal. »Und falls du daran denken solltest, mich zurückzulassen, schwöre ich dir, daß ich auch allein meinen Weg vom Berg finden und an der Schlacht teilnehmen werde.«
»Dann komm«, sagte sie resigniert.
Nachdem diese Frage geklärt war, wurde sie, wie durch irgendeine seltsame Reaktion, zu einem fröhlichen, fast ausgelassen wirkenden Mädchen und lachte mehr, als ich es jemals bei ihr erlebt habe, und erzählte uns viele Geschichten aus längst, längst vergangenen Zeiten, und keine von ihnen war traurig oder tragisch. Es war ein eigenartiges Gefühl, ihr zuzuhören, wenn sie von Menschen sprach, darunter einigen, die zu historischen Persönlichkeiten geworden waren, die vor zweitausend Jahren auf dieser Erde gelebt hatten, und mit denen sie bekannt gewesen war. Sie erzählte uns Anekdoten von ihren Lieben, ihren Kabalen, ihren Intrigen, von ihren Stärken und Schwächen, alle mit einer Prise humorvoller Satire gewürzt.
Schließlich ging sie zu wichtigeren und näherliegenden Themen über. Sie sprach von ihrer unentwegten Suche nach der Wahrheit, berichtete, wie sie, die ständig nach Weisheit hungerte, alle Religionen ihrer Epoche studiert und sie, eine nach der anderen, verworfen habe, wie sie in Jerusalem gepredigt habe und von Schriftgelehrten mit Steinen beworfen worden sei. Wie sie nach Arabien zurückgekehrt, dort von ihrem eigenen Volk als Häretikerin abgelehnt worden und dann nach Ägypten gegangen sei, wo sie am Hof des Pharao jener Tage einen berühmten Magier kennengelernt habe, halb Scharlatan, halb Seher, dessen beliebteste ›Clairvoyante‹, wenn wir es so nennen wollen, sie wurde, und dessen Kunst sie so gründlich erlernt habe, daß schließlich sie seinen Platz eingenommen hatte.
Dann, als ob sie fürchtete, zu viel zu verraten, wechselte Ayesha plötzlich den Schauplatz ihrer Erzählungen von Ägypten zu den Höhlen von Kôr. Sie erinnerte Leo an seine Ankunft dort, ein Wanderer namens Kallikrates, der von Wilden gejagt und von der Ägypterin Amenartas begleitet wurde, die sie bereits in ihrem eigenen Land gekannt und gehaßt zu haben glaubte, und wie sie sie aufgenommen hatte. Ja, sie berichtete sogar von einem Abendessen, das sie zu dritt eingenommen hätten, und von einer bösen Prophezeiung, die diese Amenartas über den Ausgang ihrer Reise gemacht hatte.
»Ja«, sagte Ayesha, »es war eine stille Nacht wie diese, und ein Mahl, wie wir es heute aßen, und
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