Ayesha - Sie kehrt zurück
poetischer Phantasie fort: »Ich sage dir, Leo, daß aus der Verbindung unserer Leben eines Tages Ordnung geboren werden wird. Hinter der Maske der Grausamkeit glänzen die zärtlichen Augen der Gnade; und die Ungerechtigkeiten dieser grausamen und verirrten Welt sind nichts als heiße, blendende Funken, die von dem Schwert der göttlichen, ewigen Gerechtigkeit sprühen. Die schweren Taue, die wir sehen, sind nur Glieder der goldenen Kette, die uns in den sicheren Hafen zieht, in dem wir Ruhe finden werden; steile Stufen, deren Erklimmen unseren Körper schmerzen läßt, sind nur der Weg zu dem Palast der Freuden, der für uns bereitgestellt worden ist. Von jetzt an kenne ich keine Angst mehr und werde mich nicht mehr gegen das Schicksal stellen, denn wir sind nur geflügelte Samen, die vom Sturm des Schicksals fortgeblasen werden, in den für uns bestimmten Garten, wo wir wachsen und die Luft mit dem süßen Duft unserer Blüten erfüllen werden.
Laß mich jetzt allein, Leo! Und schlafe etwas, denn wir brechen bei Morgengrauen auf.«
Es war gegen Mittag des folgenden Tages, als wir mit der Armee der Bergstämme, wilden und kriegerisch aussehenden Männern, den Hang hinabzogen. Die Vorhut war ein paar Meilen voraus, dann kam die Masse der Kavallerie, mit kleinen, struppigen Pferden, und auf beiden Flügeln marschierte die Infanterie, lange Kolonnen unter dem Kommando ihrer Häuptlinge.
Ayesha, die jetzt einen Schleier trug – da sie ihre Schönheit nie diesen wilden Bergbewohnern zeigte – ritt in der Mitte der Kavallerie auf einer schneeweißen Stute. Leo und ich ritten neben ihr, Leo auf dem Rappen des Khans, ich auf einem Tier, das ähnlich aussah, jedoch kräftiger gebaut war. Wir waren umringt von einer Leibwache aus bewaffneten Priestern und einem Regiment ausgesuchter Soldaten, unter ihnen die Jäger, die Leo vor dem Zorn Ayeshas gerettet hatte, und die jetzt immer um ihn waren.
Wir waren fröhlich und guter Dinge, denn in der klaren, kühlen Luft des Spätherbstes und bei dem strahlenden Sonnenschein waren die düsteren Vorahnungen und Ängste, die uns in den dunklen Höhlen bedrückt hatten, rasch verflogen, und die Schritte tausender bewaffneter Männer und die Freude auf die bevorstehende Schlacht ließen unsere Herzen rascher schlagen.
Schon lange hatte ich Leo nicht mehr so vital und glücklich gesehen. Er war in letzter Zeit ein wenig mager und blaß geworden, aus Gründen, die ich bereits erwähnt habe, doch jetzt waren seine Wangen gerötet, und seine Augen glänzten wieder.
Ayesha schien auch aufgelebt zu sein, denn die Stimmungen dieser seltsamen Frau waren so launenhaft wie die der Natur selbst, und so vielfältig, wie eine Landschaft bei Sonnenschein oder Regen. Jetzt war sie heller Tag, dann schwärzeste Nacht; jetzt Morgendämmern, dann Abend, und dann erschienen die Reflexionen ihrer Gedanken in der Tiefe ihrer blauschwarzen Augen, wie ziehende Nebel an einem sommerlichen Himmel, und unter dem Druck dieser Stimmungen veränderte sich ihr Gesicht und glänzte wie von einer Brise gekräuseltes Wasser unter dem Sternenhimmel.
»Zu lange«, sagte sie mit einem kleinen, perlenden Lachen, »bin ich im Schoß dieses düsteren Berges eingeschlossen gewesen, in der Gesellschaft von Stummen und Wilden oder melancholischer, singender Priester, und jetzt bin ich froh, die Welt wiederzusehen. Wie herrlich ist der Schnee dort oben, wie schön die braunen Hänge unter den Schneefeldern, und die weiten Ebenen vor uns, die sich bis zum fernen Gebirge erstrecken. Wie strahlend ist der Sonnenschein, wie süß und frisch die Luft des Himmels.
Glaub mir, Leo, mehr als zwanzig Jahrhunderte sind vergangen, seit ich das letzte Mal auf einem Pferd saß, und doch habe ich, wie du siehst, die Kunst des Reitens nicht verlernt, obwohl dieses Tier natürlich keinen Vergleich mit den edlen Arabern aushält, die ich in den weiten Wüsten Arabiens geritten habe. Oh! Ich weiß noch, wie ich an der Seite meines Vaters in den Kampf gegen marodierende Beduinen galoppierte, wie ich mit eigener Hand ihren Häuptling mit dem Speer aus dem Sattel holte und ihn um Gnade winseln ließ. Eines Tages werde ich dir von meinem Vater erzählen, Leo, dessen Liebling ich war, und obwohl wir seit unendlich langer Zeit getrennt sind, halte ich die Erinnerung an ihn in Ehren und freue mich darauf, ihn irgendwann wiederzutreffen.
Sieh, dort drüben ist die Mulde, in der dieser Katzenanbeter lebte, der euch beide ermorden wollte, weil
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