Ayesha - Sie kehrt zurück
Leo, der damals nicht viel anders aussah, als jetzt, nur daß er jünger und bartlos war, saß an meiner Seite. Dort, wo du sitzt, Holly, saß die königliche Amenartas, eine sehr schöne Frau; ja, sogar schöner als ich, bevor ich in der Essenz des Lebens badete, und sie besaß eine prophetische Gabe, obwohl sie nicht so gelehrt war wie ich. Wir haßten einander vom ersten Augenblick an, und ihr Haß wuchs noch, als sie erriet, daß ich dich begehrte, Leo, ihren Geliebten; denn ihr Ehegemahl bist du nie gewesen, der du zu rasch fliehen mußtest, um heiraten zu können. Sie wußte auch, daß der Kampf zwischen ihr und mir uralt war und für Jahrhunderte und Generationen andauern würde, und daß bis zum Ende keine von uns siegen würde, die wir beide gesündigt hatten, um dich zu gewinnen, Leo, der du vom Schicksal dazu ausersehen warst, der Magnet unserer Herzen zu sein. Dann sprach Amenartas und sagte: ›In meinen Augen, Kallikrates, ist der Wein in deinem Becher zu Blut geworden, und das Messer in deiner Hand, o Tochter von Yarab‹ – denn so nannte sie mich – ›tropft rotes Blut. Ja, und dieser Ort ist eine Grabkammer, und du, Kallikrates, schläfst darin, und ihr, deiner Mörderin, wird es nicht gelingen, den Atem des Lebens in deine kalten Lippen zurückzuküssen.‹
Und es kam auch so, wie es das Schicksal vorbestimmt hatte«, setzte Ayesha nachdenklich hinzu, »denn ich habe dich dort, am Ort des Lebens getötet, ja, in meinem Irrsinn habe ich dich getötet, weil du die Veränderung, die ich erfahren hatte, nicht verstehen wolltest oder konntest und vor meiner Schönheit zurückschrecktest, wie eine blinde Fledermaus vor dem Strahlen einer Flamme, und dein Gesicht in den Fluten ihres schwarzen Haares bargst. – Was willst du jetzt wieder, Oros? Kann ich nicht eine Stunde vor dir Ruhe haben?«
»O Hes, ein Schreiben von der Khania Atene ist eingetroffen«, sagte der Priester mit einer tiefen Verneigung.
»Brich das Siegel und lies ihn vor!« antwortete sie desinteressiert. »Vielleicht bereut sie ihre Torheit und bittet mich um Vergebung.«
Oros las:
»An die Hesea des Tempels auf dem Berg, die auf Erden als Ayesha bekannt ist, und im Haushalt der Überwelt, zu dem sie sich Zutritt verschafft hat, als ›Gefallener Stern‹ ...«
»Wirklich ein hübscher Name«, unterbrach Ayesha; »aber Atene, gefallene Sterne gehen wieder auf – selbst aus der Unterwelt. Lies weiter, Oros!«
»Sei gegrüßt, o Ayesha. Du, die du sehr alt bist, hast im Lauf der Jahrhunderte und im Kontakt mit anderen Mächten viel Wissen anhäufen können, die dich in den Augen jener, die du durch deine Künste geblendet hast, schön erscheinen lassen. Doch fehlt dir eine Gabe, die ich besitze: Visionen von Geschehen wahrzunehmen, die noch nicht stattgefunden haben. Wisse, o Ayesha, daß ich und mein Onkel, der große Seher, in den himmlischen Büchern nachgelesen haben, was dort über den Ausgang dieses Krieges geschrieben steht.
Dies steht geschrieben: Für mich bringt er den Tod, den ich mit Freuden begrüße. Für dich einen Speer, von deiner eigenen Hand geworfen. Für das Land Kaloon Blut und Zerstörung, durch dich geboren!
ATENE
Khania von Kaloon.«
Ayesha hatte schweigend zugehört. Ihre Lippen zitterten nicht, und sie wurde nicht blaß.
»Sag dem Boten Atenes«, wies sie Oros an, nachdem er zu Ende gelesen hatte, »daß ich ihre Botschaft erhalten habe und sie beantworten werde, wenn ich ihr Angesicht zu Angesicht in ihrem Palast in Kaloon gegenüberstehe. Und nun geh, Priester, und störe mich nicht noch einmal!«
Als Oros das Zimmer verlassen hatte, wandte sie sich wieder uns zu und sagte: »Die Geschichte aus der Vergangenheit, die ich eben erzählt habe, paßt sehr gut zu dieser Stunde, denn so wie Amenartas das nahende Unheil vorausgesagt hat, so tut es auch Atene, und Amenartas und Atene sind eins. Nun, soll der Speer fliegen, wenn er fliegen muß, ich werde nicht vor ihm zurückzucken, da ich weiß, daß ich zuletzt triumphieren werde. Vielleicht glaubt die Khania, mich mit einer hinterhältigen Lüge ängstigen zu können, denn wenn sie die Bücher richtig gelesen haben sollte, dann sei sicher, Geliebter, daß mit uns alles gut gehen wird, denn niemand kann seinem Schicksal entgehen, und genausowenig kann unser Bund, der von dem Universum geschlossen wurde, das uns geschaffen hat, jemals zerbrochen werden.«
Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie mit einem plötzlichen Ausbruch
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