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Ayesha - Sie kehrt zurück

Ayesha - Sie kehrt zurück

Titel: Ayesha - Sie kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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der Klinge eines Messers, das Leo gezogen hatte, und er hackte damit auf dem Lederseil herum, um ein Ende zu machen. Und das Geräusch, das ich gehört hatte, waren die Schreie, die er dabei ausstieß, grauenvolle Schreie, halb Ausdruck von Trotz, halb Schreckensschreie.
    Als er zum dritten Mal zuschlug, riß das Seil.
    Ich sah, wie es sich auflöste. Die Klinge hatte es zur Hälfte durchtrennt, die losen Teile kräuselten sich nach oben und unten wie die Lefzen eines wütenden Hundes, während sich der noch haltende Teil weiter und weiter dehnte, und dabei immer dünner wurde. Dann zerriß er, und das Seil peitschte hoch und traf mich ins Gesicht.
    Sekunden später hörte ich ein knirschendes, krachendes Geräusch. Leo war auf dem Boden der Schlucht aufgeschlagen. Leo war tot, eine leblose Masse von zerfetztem Fleisch und zerbrochener Knochen, so wie ich ihn vor mir gesehen hatte. Ich konnte es nicht länger ertragen. Mein Bewußtsein und meine Nerven hatten die Betäubung abgeschüttelt. Ich würde nicht so lange warten, bis ich, am Ende meiner Kraft, meinen unsicheren Halt verlor und abstürzte wie ein verwundeter Vogel von einem Baum. Nein, ich wollte ihm sofort folgen, und aus freiem Entschluß.
    Ich ließ meinen Halt los, preßte beide Arme an den Körper und genoß sekundenlang das Nachlassen der Schmerzen in meinen Muskeln und Gelenken, das Gefühl von Befreiung, das mir diese kleine Bewegung schenkte. Dann richtete ich mich langsam auf, stand aufrecht an die steile Felswand gepreßt und blickte zum letzten Mal zum Himmel hinauf. Mehrere Sekunden lang stand ich so, den Kopf in den Nacken gelegt, und murmelte ein Gebet.
    »Ich komme, Leo!« schrie ich dann, riß beide Arme über den Kopf und tauchte so, wie ein Schwimmer, der ins Wasser springt, in die schwarzen Tiefen der Schlucht.

6
     
    Vor dem Tor
     
     
    Oh! Dieser Fall durch den Raum. Angeblich verliert ein Mensch, der so ins Leere stürzt, sehr bald das Bewußtsein, doch ich kann Ihnen versichern, daß das nicht stimmt. Niemals waren mein Bewußtsein und mein Wahrnehmungsvermögen schärfer als in jenen Sekunden, da ich von dem abgebrochenen Eiszapfen zum Grund der Schlucht stürzte, und nie schien eine so kurze Reise derart lange zu dauern. Ich sah den weißen Grund wie ein lebendes Wesen auf mich zustürzen, und dann – das Ende.
    Ein harter Aufschlag! Aber wieso lebte ich noch? Ich war im Wasser; ich fühlte seine eisige Kälte, als ich tiefer sank, und tiefer, und tiefer, so daß ich überzeugt war, niemals wieder an die Oberfläche zu kommen. Aber ich kam nach oben, obwohl meine Lungen zu platzen drohten. Als ich mich der Oberfläche näherte, erinnerte ich mich an den harten Aufschlag, der mir verraten hatte, daß ich durch eine Eisschicht gebrochen war. Also würde ich bei Erreichen der Oberfläche wieder auf Eis stoßen. Oh! Der Gedanke, daß ich nach Überwindung so vieler Gefahren unter einer Eisdecke ertrinken würde wie ein Kätzchen. Meine Hände berührten das Eis, und es schimmerte über mir wie Milchglas. Dem Himmel sei Dank! Mein Kopf durchstieß die Eisdecke; in dieser geschützten Tiefe hatte sich durch den Frost der vergangenen Nacht nur eine dünne Schicht bilden können, nicht dicker als eine Münze. Also war ich der Tiefe entronnen! Ich trat Wasser und blickte umher.
    Und dann erfaßten meine Augen das schönste Bild, das ich jemals gesehen habe: zehn Meter rechts von mir, mit triefenden Haaren und Bart, war Leo. Leo lebte! Auch er hatte beim Aufprall die dünne Eisdecke durchbrochen und schwamm jetzt mit kräftigen Stößen zum Ufer des tiefen Flusses. {*} Er sah mich ebenfalls, und seine grauen Augen funkelten.
    »Wir leben also noch, alle beide, und wir haben den Abstieg in die Schlucht geschafft!« rief er mit lauter begeisterter Stimme. »Ich habe dir gesagt, daß wir geführt werden!«
    »Aber wohin?« fragte ich, während ich mit jedem Schwimmstoß die dünne Eisdecke zerbrechen mußte.
    In diesem Augenblick entdeckte ich, daß wir nicht mehr allein waren, denn am Ufer des Flusses, etwa dreißig Meter von uns entfernt, standen zwei Menschen, ein Mann, der sich auf einen langen Stab stützte, und eine Frau. Der Mann war sehr alt; seine Augen wirkten trübe, sein schlohweißer Bart und das Haar hingen ihm über Brust und Schultern, und sein sardonisches, faltiges Gesicht war so gelb wie Wachs. Es wirkte wie eine in Marmor gehauene Totenmaske. Er trug eine weite Mönchsrobe, lehnte sich auf seinen Stab und starrte zu uns

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