Ayesha - Sie kehrt zurück
und zu rutschen.
In zwei Sekunden erreichte ich die Biegung, in drei Sekunden war ich über sie hinweg. Unter ihr befand sich, was ich nur als einen riesenhaften Eiszapfen beschreiben kann, der dicht über seiner Basis abgebrochen war. Dieser Eiszapfen war etwa fünfzehn Fuß lang und wuchs aus der Wand der Schlucht. An seiner Basis war von Schmelzwasser oder einer anderen Einwirkung das Eis abgetragen und ein schmaler Felsensims von der Breite einer Männerhand freigelegt worden. Meine Kleidung verfing sich an Höckern und anderen Auswüchsen der Eisfläche, und ich griff nach ihnen, um mich auch mit den Händen daran festzuklammern. So kam es, daß ich ziemlich sanft an der überhängenden Zunge des Gletschers hinabglitt und schließlich mit den Füßen auf dem schmalen Sims an der Wurzel des Eiszapfens landete. Ich stand fast aufrecht, mit ausgebreiteten Armen, wie auf den Gletscher gekreuzigt.
Jetzt sah ich, was geschehen war, und der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. Vier Fuß unterhalb der abgebrochenen Spitze des gigantischen Eiszapfens hing Leo an seinem Seil – zu weit entfernt, als daß ich ihn erreichen hätte können. Er pendelte leicht hin und her und drehte sich dabei um die eigene Achse. Unter uns gähnte der schwarze Grund der Schlucht, und aus ihrer Tiefe sah ich das weiße Schimmern von Schnee.
Stellt euch das vor! Ich war auf das Eis gekreuzigt, mit den Füßen auf einem handbreiten Sims an einer steilen Felswand; meine Finger klammerten sich an Unebenheiten im Eis fest, auf denen kaum ein Vogel Halt gefunden hätte. Um mich herum nur glattes Eis und glatte Felswände. Der Rückweg auf den Gletscher, von dem ich gekommen war, war unmöglich, mich zu bewegen, ebenso, da ein Ausgleiten mein sicheres Ende bedeutet hätte.
Und unter mir hing, wie eine Spinne an ihrem Faden, Leo, und drehte sich langsam um die eigene Achse.
Ich konnte sehen, wie sich das Seil aus ungegerbtem Fell unter seinem Gewicht dehnte und die Knoten sich allmählich auseinanderzogen, und ich erinnere mich, daß ich mich fragte, was eher nachgeben würde, das Fell oder die Knoten, oder ob beide halten würden, bis er dort gestorben war und seine Knochen einzeln in die Schlucht fallen würden.
Oh! Ich habe in meinem Leben so vielen Gefahren ins Auge gesehen, doch niemals – niemals! – in einer so ausweglosen Lage wie dieser. Eine tiefe Verzweiflung packte mich, und kalter Schweiß brach aus allen Poren. Ich fühlte ihn über mein Gesicht rinnen wie Tränen. Mein Haar sträubte sich. Und unter mir hing Leo, drehte sich langsam um sich selbst, und wenn sein Gesicht in meine Richtung gewandt war, sah er mich an, und sein Blick war grauenhaft.
Das Schlimmste aber war die Stille, eine Stille der Hilflosigkeit und der Hoffnungslosigkeit. Wenn Leo geschrien hätte, wenn er sich gegen das Unvermeidliche gewehrt und um sich geschlagen hätte, wäre es leichter zu ertragen gewesen. Doch zu wissen, daß er lebend an dem Seil hing, alle Nerven und Sinne zum Zerreißen angespannt ... Mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!
Jeder Muskel meines Körpers begann zu schmerzen, doch ich traute mich nicht, ein Glied zu rühren. Sie schmerzten entsetzlich, jedenfalls glaubte ich das, und unter dieser Folter, physisch und psychisch, floh mein Bewußtsein in die Vergangenheit. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind auf einen Baum geklettert und an eine Stelle gelangt war, wo ich nicht mehr vor und nicht zurück konnte, und wie ich dort gelitten hatte. Ich dachte an meine Zeit in Ägypten, wo ein leichtsinniger Freund allein auf die Zweite Pyramide gestiegen und auf ihrer Spitze liegengeblieben war, weil er den Abstieg nicht finden konnte. Eine halbe Stunde lag er dort, mit vierhundert Fuß fast glatter Fläche unter sich. Ich sah ihn jetzt wieder, wie er dort oben auf dem Bauch lag, mit seinen Füßen vergeblich nach einem Riß oder einem Spalt in den Steinplatten tastete und ihn dann wieder zurückzog. Ich konnte wieder sein zerquältes Gesicht sehen, einen hellen Fleck auf dem roten Granit.
Dann verschwand das Gesicht, und es wurde dunkel um mich, und in der Dunkelheit formten sich Visionen: von der lebenden, rachsüchtigen Lawine, von dem Schneegrab, in dem ich versunken war, und – ach! – viele Jahre zurück: von Ayesha, die Leos Leben von mir forderte. Dunkelheit und Stille, durch die ich das Knacken meiner Gelenke hörte.
Plötzlich ein Aufblitzen aus dem Dunkel, und aus der Stille ein Laut. Das Aufblitzen kam von
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