Ayesha - Sie kehrt zurück
Wenig später schlugen lodernde Flammen zum nächtlichen Himmel empor und erleuchteten die unheimliche Szene.
Nun war alles bereit, und ein Mann brachte dem rotbärtigen Priester ein Holztablett. Der Priester saß inzwischen auf einem Hocker, die weiße Katze auf seinen Knien. Er nahm das Tablett an den beiden Griffen, und auf ein Kommando von ihm sprang die Katze darauf. Dann stand er auf und murmelte in der absoluten Stille, die jetzt herrschte, ein Gebet, das anscheinend der Katze galt, die mit ihm zugewandtem Gesicht auf dem Tablett hockte. Als Beendigung des Gebets drehte er das Tablett herum, so daß die Katze mit dem Rücken zu ihm saß, trat auf die Reihe der Gefangenen zu und ging langsam vor ihnen auf und ab. Er schritt mehrmals so an ihnen vorbei, jedesmal ein wenig näher.
Dann blieb er vor dem Gefangenen am linken Ende der Reihe stehen und hielt ihm das Tablett vor das Gesicht. Die Katze erhob sich, krümmte ihren Rücken und begann, die Vorderpfoten zu heben und zu senken. Der Priester trat vor den nächsten Gefangenen und hielt ihm eine Weile das Tablett mit der Katze vor das Gesicht, und dann zum nächsten, bis er den fünften erreichte. Es war die junge Frau, von der ich gesprochen habe. Nun war die Katze erregt und wütend, denn in der absoluten Stille hörten wir sie fauchen. Schließlich richtete sie sich auf und schlug dem Mädchen die Krallen ins Gesicht. Das Mädchen schrie auf – und es war ein entsetzlicher Schrei. Dann kam ein Schrei von der Menge, ein einziges Wort, das wir verstanden, da es in ähnlicher Form auch von den Menschen der Ebene verwendet wurde: »Hexe! Hexe! Hexe!«
Mehrere Männer, die bereitstanden, um das Opfer dieses Gottesurteils durch die Katze zu übernehmen, sprangen auf die junge Frau zu, packten sie und schleppten sie zum Feuer. Der Gefangene, der neben ihr stand und den wir – zu recht, wie es sich herausstellte – für ihren Ehemann hielten, versuchte, sie zu beschützen, doch da seine Arme auf den Rücken gefesselt waren, konnte er nichts tun. Einer der Männer, die seine Frau fortschleppten, schlug ihn kurzerhand mit einem Knüppel nieder. Die Frau nutzte diesen Augenblick der Verwirrung, um sich loszureißen und auf ihren Mann zu werfen, doch die Scharfrichter rissen sie wieder empor und schleppten sie zum Feuer. Die Menge schrie und jubelte frenetisch.
»Ich kann das nicht mitansehen«, sagte Leo. »Es ist Mord, kaltblütiger Mord.« Er zog sein Schwert.
»Misch dich nicht ein!« warnte ich ihn, obwohl auch mein Blut kochte.
Ob er mich hörte oder nicht, kann ich nicht sagen. Ich sah Leo durch die Toröffnung stürzen, das Schwert des Khan über den Kopf geschwungen und aus voller Kehle schreiend. Ich schlug dem Pferd die Absätze in die Flanken und folgte ihm. Zehn Sekunden später waren wir mitten in der Menge. Bei unserem Anblick wichen die Wilden nach allen Seiten zurück und starrten uns erschrocken an, da sie uns wohl für Gestalten einer Vision hielten. So gelangten wir, Leo zu Fuß und ich zu Pferde, unbehelligt auf den Schauplatz des Geschehens.
Die Scharfrichter und ihr Opfer hatten inzwischen das Feuer fast erreicht. Es war ein riesiges Feuer aus dicken Kiefernkloben, das in einer tiefen Grube brannte. Neben der Flammengrube saß der rotbärtige Priester auf seinem Hocker, beobachtete die Szene mit einem grausamen Lächeln und fütterte die Katze mit kleinen, rohen Fleischstückchen, die er aus einer umgehängten Ledertasche zog. Er war so vertieft in diese Beschäftigung, daß er uns erst bemerkte, als wir ihn erreicht hatten.
»Laßt sie los, ihr Bestien!« schrie Leo, während er sich auf die Männer stürzte, die das Mädchen zur Feuergrube schleppten und hieb einem von ihnen, der das Opfer im Genick gepackt hatte, um es in die Flammen zu stoßen, den Arm ab.
Mit einem gellenden Schrei sprang der Mann zurück, wedelte mit dem Stumpf und starrte ihn an. Das Mädchen nutzte die Gelegenheit, riß sich von den anderen los und lief ins Dunkel, wo es Sekunden später verschwunden war. Der Hexen-Priester sprang auf, ohne das Tablett loszulassen, auf dem die Katze saß, und begann Leo anzuschreien, der ihn seinerseits verfluchte, auf englisch und in mehreren anderen Sprachen.
Plötzlich duckte sich die Katze, vermutlich wütend über den Lärm und die Unterbrechung der Fütterung, und sprang Leo ins Gesicht. Das heißt, sie wollte es, doch Leo fing sie mitten im Sprung mit seiner linken Hand auf und warf sie auf den harten Boden, wo sie
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