Ayesha - Sie kehrt zurück
Erinnerungen verwirrt, von Hoffnung und von Angst zerrissen.«
Und auch ich sagte: »Sprich!«
»Leo Vincey«, sagte die Hesea, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, »wer, glaubst du, bin ich?«
»Ich glaube«, sagte er ernst, »daß du jene Ayesha bist, durch deren Hand ich einst in den Höhlen von Kôr getötet wurde. Ich glaube, daß du die Ayesha bist, die ich vor zwanzig Jahren wiedergefunden und geliebt habe, in denselben Höhlen von Kôr, in Afrika, und die ich dort jämmerlich sterben sah, nachdem sie mir geschworen hatte, wieder zurückzukehren.«
»Nun siehst du selbst, wohin der Wahnsinn einen Mann treiben kann«, sagte Atene triumphierend, »›Vor zwanzig Jahren‹, hat er gesagt, doch ich weiß, daß mehr als achtzig Sommer vergangen sind, seit mein Großvater als junger Mann dich auf diesem Thron der Mutter sitzen sah.«
»Und für wen hältst du mich, Holly?« fragte die Priesterin.
»Was er glaubt, das glaube ich auch«, antwortete ich mit einem Kopfnicken zu Leo hin. »Die Toten kehren zum Leben zurück – manchmal. Doch du allein kennst die Wahrheit, und nur durch dich kann sie enthüllt werden.«
»So ist es«, sagte sie nachdenklich, »die Toten kehren ins Leben zurück – manchmal – und oft in einer fremden, seltsamen Gestalt, und nur ich kenne die Wahrheit. Morgen, wenn jener Leichnam zur Beisetzung auf den Gipfel gebracht wird, werden wir weiter davon sprechen. Bis dahin ruht euch aus und bereitet euch darauf vor, jenem furchtbaren Wesen gegenüberzutreten – der Wahrheit.«
Während die Hesea so sprach, schloß sich der silberne Vorhang vor ihrem Thron so geheimnisvoll, wie er sich geöffnet hatte. Wie auf ein Signal traten nun die in schwarze Roben gekleideten Priester auf Atene zu und führten sie und ihren Onkel, den Schamanen, aus dem Schrein. Der Schamane schien mir so geschwächt, ob vor Erschöpfung oder Angst, kann ich nicht sagen, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte und mit seinen trüben Augen blinzelte, als ob das helle Licht sie geblendet hätte. Als sie gegangen waren, traten die Priester und Priesterinnen, die bis dahin entlang den Wänden und außerhalb Hörweite gestanden hatten, zu Gruppen zusammen und verließen, immer noch singend, ebenfalls den Raum, so daß wir mit Oros allein waren – mit dem Leichnam des Khan, der an der Stelle zurückblieb, wo die Träger die Bahre abgesetzt hatten.
Der Hohepriester Oros winkte uns, ihm zu folgen, und nun verließen auch wir den Schrein. Ich war darob sehr erleichtert, denn seine totengleiche Verlassenheit – die seltsamerweise durch die strahlende Helligkeit noch spürbarer wurde, eine Verlassenheit, die sich in der reglosen Gestalt auf der Bahre zu konzentrieren und zu manifestieren schien – bedrückte und überwältigte uns, deren Nerven von allem, was wir durchgemacht hatten, sehr strapaziert worden waren. Ich atmete befreit auf, als wir, nachdem wir das lange Schiff des Tempels, das eiserne Tor und den Tunnel passiert hatten, durch das Gittertor in die frische, klare Nachtluft hinaustraten.
Oros führte uns zu einem Haus, wo wir auf seine Aufforderung hin, wie in Trance, einen Absud tranken, den er uns reichte. Ich bin überzeugt, daß es ein Betäubungsmittel war, denn sobald ich den Becher geleert hatte, wurde es dunkel um mich, und als ich wieder erwachte, lag ich in meinem Bett und fühlte mich wunderbar kräftig und ausgeruht. Das fand ich seltsam, da es noch immer dunkel war und ich deshalb nur wenige Stunden geschlafen haben konnte.
Ich versuchte wieder einzuschlafen, doch es gelang mir nicht, also dachte ich ein wenig nach, bis ich dessen müde wurde. Denn Nachdenken brachte mich in diesem Fall nicht weiter: nichts konnte mich weiterbringen außer die Wahrheit – ›diesem furchtbaren Wesen‹, wie die verhüllte Priesterin sie genannt hatte.
Oh! Was war, wenn sie uns nicht Ayesha finden lassen würde, sondern irgendein ›furchtbares Wesen‹? Was hatten die Andeutungen der Khania und ihre selbstsichere Haltung zu bedeuten, die nur durch die Macht eines verborgenen Wissens zu erklären waren? War es ...? Nein, das war unmöglich. Ich würde jetzt aufstehen und meinen Arm neu verbinden. Oder ich würde Leo wecken, damit er es für mich täte. – Ich mußte irgend etwas tun, um mich zu beschäftigen, bis die Stunde herangekommen war, zu der wir alles erfahren würden: Das Beste – oder das Schlimmste.
Ich setzte mich im Bett auf und sah, daß jemand ins Zimmer trat. Es war Oros, der
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