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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gesehen«, ant wortete er, ohne sich zu Sendig herumzudrehen. »Wahrscheinlich war es nur ein Lichtreflex. Irgendein Schatten.«
    »Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Sendig. Irgend etwas klapperte zu Boden, aber Bremer widerstand weiter tapfer der Versuchung, sich zu ihm herumzudrehen. Statt dessen öffnete er eine weitere Schublade des wuchtigen altdeutschen Schrankes und untersuchte ihren Inhalt. Er unterschied sich nicht von dem der beiden, die er bereits durchgesehen ha t te: Zeitschriften, irgendwelche Papiere voller wissenschaftlicher Fachausdrücke, die genausogut in Chinesisch geschrieben sein könnten, ein paar Akten, deren Stempel verriet, daß sie aus der Klinik stammten. Bremer öffnete sie alle, aber er mußte sie nicht durchblättern. Jede einzelne enthielt auf der ersten Seite ein Farbfoto desjenigen, dessen Krankengeschichte sie behandelte.
    »Glauben Sie an Engel?« fragte Sendig, als er auch nach einer Weile keine Antwort bekam.
    »Natürlich«, antwortete Bremer. »Genauso wie an den Osterhasen, den Weihnachtsmann und ehrliche Politiker.«
    Sendig lachte pflichtschuldig, aber er schien Gefallen an dem Thema gefunden zu haben, denn er ließ auch jetzt nur einige Sekunden verstreichen, ehe er fortfuhr: »Sie sollten so l che Dinge nicht auf die leichte Schulter nehmen, Bremer. Das meiste von dem, was wir für bloße Einbildung oder Halluzination halten, hat eine tiefere Bedeutung. Manchmal sind es Botschaften, die uns unser Unterbewußtsein schickt. Nur verstehen wir sie nicht immer gleich.«
    Irgendwann, dachte Bremer, würde seine rechte Faust Sendig eine Botschaft schicken, und zwar eine, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Und dieser Tag war vielleicht gar nicht mehr so fern. Er schwieg weiter, aber Sendig verstand die Bedeutung dieses Schweigens entweder nicht, oder er ignorierte sie, denn er plapperte fröhlich weiter.
    »Außerdem sollte man mit solchen Dingen nicht scherzen. Sie wären erstaunt, wenn Sie -
    »Sendig, hören Sie auf!« sagte Bremer. »Ich habe heute einfach keinen Nerv mehr für Geschichten. «
    Zu seinem eigenen Erstaunen hielt Sendig tatsächlich inne, als er ihn vorwurfsvoll ansah. Nach ein paar Sekunden drehte er sich herum und sah den Kommissar an. »Entschuldigung. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
    »Geschenkt.« Sendig machte eine großmütige Geste, dann grinste er. »Ich weiß, daß ich manchen Leuten mit meinem Gerede auf die Nerven gehe. Das muß mein afrikanisches Blut sein. Einer meiner Urururgroßväter war Ägypter - angeblich mit einer Ahnenreihe, die bis in die Zeit der Pharaonen zurückreicht. Wußten Sie, daß die alten Ägypter das schwatzhafteste Volk waren, das man sich nur vorstellen kann?«
    »Wenn man Sie so hört, könnte man es beinahe glauben«, sagte Bremer. Seine Entschuldigung tat ihm bereits wieder leid. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, Sendig kräftig genug vor den Kopf zu stoßen, daß er wenigstens für ein paar Stunden beleidigt die Klappe hielt.
    Mit dieser Bemerkung jedenfalls war es ihm nicht gelungen, denn Sendig lachte nur. »Irgend etwas muß wohl dran sein, ja. Haben Sie was gefunden?«
    Wieder brauchte Bremer fast eine Sekunde, um die Frage überhaupt dem Thema zuzuordnen, zu dem sie gehörte. Sendigs Verhalten verwirrte ihn zunehmend. Er mußte entweder betrunken sein - oder so nervös, daß er halb hysterisch wurde. Warum? »Gefunden? Ich weiß ja nicht einmal, wonach wir suchen.«
    »Ich auch nicht«, gestand Sendig. »Aber das macht die Geschichte ja gerade spannend.« Er seufzte. »Aber jetzt mal im Ernst: Daß Sie ausgerechnet einen Engel gesehen haben wollen, ist schon ein ziemlicher Zufall, finden Sie nicht?«
    Bremer zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder herum. »Suchen wir weiter. Irgend etwas werden wir schon finden.«
    »Ja«, stöhnte Sendig. »Wissenschaftliche Fachbücher. Mein Gott, ich habe nie so viel gelehrtes Zeug auf einmal gesehen!«
    »Was haben Sie erwartet?« fragte Bremer, während er sich der nächsten Schublade zuwandte. Auch sie enthielt eine Anzahl Patientenakten. Artner mußte ein Workaholic gewesen sein, und zwar im schlimmsten Stadium. »Der Mann war Wissenschaftler.«
    »Aber er muß doch noch irgendwelche anderen Interessen gehabt haben!« beschwerte sich Sendig. »So etwas ist doch nicht normal. Ich meine -jeder Mensch hat schließlich irgendein Hobby.«
    »Wahrscheinlich war Artners Hobby sein Beruf.« Bremer schloß die Schublade und wandte sich den

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