AZRAEL
Türen darüber zu. »Auf jeden Fall scheint er sich jede Menge Arbeit mit nach Hause genommen zu haben.«
»Hätte ich an seiner Stelle auch getan«, witzelte Sendig. »Vielleicht einen besonders interessanten Fall. Jung, hübsch, mit blonden Haaren und - he, was ist denn das?«
»Was haben Sie?«
»Schauen Sie, hier!« Sendig deutete auf das Bücherregal, d essen Inhalt er auf dem Boden verstreut hatte. Bremer trat neugierig näher, aber er mußte zweimal hinsehen, um den winzigen Spalt zu entdecken, der sich zwischen der Rückwand und dem nächstoberen Brett befand.
»Wenn das kein Geheimfach ist!« Sendig drückte mit gespreizten Fingern gegen das Brett. Ein leises Klicken erscholl, und einen Augenblick später glitt die ganze Rückwand nach oben. Dahinter kam ein zweites, schmaleres Regal zum Vo r schein, das allerdings keine Bücher enthielt, sondern ein gutes Dutzend Cassetten in einem durchsichtigen Plastikständer.
»Hoppla!« Sendig stieß einen anerkennenden Pfiff aus, beugte sich vor und verrenkte sich fast den Hals, um in den Spalt über dem Regalbrett zu blicken. »Ein Federmechanismus!« sagte er. »Wie's aussieht, selbst gebaut. Gar nicht unclever, für einen versponnenen Professor! Hätte ich ihm nicht zugetraut.«
Bremer wußte noch nicht einmal genau, was sie da entdeckt hatten, aber das hinderte ihn nicht daran, schon wieder einen leisen Ärger zu empfinden. Eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, daß, falls es hier etwas zu finden gab, es Sendig war, der es fand, und nicht er.
Sendig arbeitete sich wieder aus dem Regal heraus und trat einen halben Schritt zurück. Nachdenklich betrachtete er die Cassetten. Sie waren mit weißen Aufklebern versehen, aber nicht beschriftet. Bremer bemerkte erst beim dritten Hinsehen, daß es keine Audiocassetten waren, wie er im ersten Moment angenommen hatte. Die Größe stimmte, aber sie waren zu dick.
»Video-8-Bänder«, sagte er.
Sendig nickte heftig. »Erstaunlich, erstaunlich«, sagte er. »Ich bin gespannt, was da wohl drauf ist. Sieht so aus, als hätte Professor Artner doch das eine oder andere Hobby außer seinem Beruf. Was mag da wohl drauf sein, daß er sie so sorgfältig versteckt?«
Sendig sah sich nachdenklich um. »Irgendwo hier habe ich eine Adaptercassette gesehen«, sagte er. »Helfen Sie mir, sie zu finden.«
Bremer rührte sich nicht. Schließlich hatte er das Chaos nicht angerichtet, sondern Sendig selbst. Sollte er doch jetzt sehen, wie er diese verdammte Cassette wiederfand. Aber das war nicht der einzige Grund. Das ungute Gefühl war wieder da. Nein, es war kein Gefühl. Bremer war plötzlich sicher, daß sie sich diese Bänder nicht ansehen sollten. Mehr noch – er wollte plötzlich gar nicht mehr wissen, was sie enthielten.
»Vielleicht sollten wir die Bänder mitnehmen und später betrachten«, sagte er.
Sendig ließ sich in die Hocke sinken und wühlte mit beiden Händen in dem Durcheinander aus Büchern, Papieren und Tonband- und Videocassetten herum, das vor zehn Minuten noch säuberlich sortiert auf den Regalbrettern vor ihnen gelegen hatte. Er fand fast sofort, wonach er suchte. Es vergingen nur ein paar Sekunden, bis er sich wieder aufrichtete und Bremer triumphierend die Adaptercassette entgegenhielt.
»Sehen Sie? In einem ordentlichen Haushalt geht eben nichts verloren. Geben Sie mir eines der Bänder.«
Bremer nahm tatsächlich eine der kleinen Cassetten aus dem Geheimfach, aber er zögerte, sie Sendig auszuhändigen. Es war, als flüsterte ihm eine lautlose Stimme zu, es nicht zu tun. »Wir sollten sie mitnehmen«, sagte er noch einmal. »Und später ansehen.«
»Sind Sie denn gar nicht neugierig?« Sendig lachte. »Wahrscheinlich sind das ganze heiße Geschichten. Es ist besser, wir werfen wenigstens einen Blick hinein. Stellen Sie sich nur vor, wir geraten in eine Verkehrskontrolle, und man findet einen Koffer voller Kinderpornos bei uns. So etwas ist strafbar.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Wer weiß - man kann ja auch mal Glück haben.«
Bremer blieb ernst. »Das sind mehr als zehn Bänder«, sagte er. »Zwanzig Stunden. Und ich finde, wir sind jetzt schon zu lange hier.«
»Wer sagt denn, daß ich sie alle ansehen will?« fragte Sendig. Er nahm Bremer kurzerhand das Band aus den Fingern und ließ es in die Adaptercassette gleiten, die er in den Videorecorder über dem Fernseher schob. Sowohl Recorder als auch Fernseher waren supermodern und offensichtlich nagelneu, und für einen Moment
Weitere Kostenlose Bücher