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Azrael

Azrael

Titel: Azrael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Killough-Walden
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Von hier aus segelten die Fischer aufs Meer und warfen ihre Netze aus, seit sich die ersten Siedler an der Westküste niedergelassen hatten. Einwanderer aus Italien und China hatten an dieser Küste eine neue Heimat gefunden. Während des Goldrausches war San Francisco das Ziel zahlloser Glücksritter gewesen. Und Angel Island – das Pendant vom New Yorker Immigrationssymbol Ellis Island – hatte viele Tausend Hungrige, Erschöpfte und Hoffnungsvolle gesehen.
    Nicht immer hatte der Pier 39 so ausgesehen wie heutzutage. Im Lauf der Zeit war er verlagert, zerstört, wieder aufgebaut, niedergebrannt und erneut errichtet worden. 1978 hatte ein Mann beschlossen, etwas scheinbar Unmögliches zu realisieren: eine Landungsbrücke, auf der Familien shoppen, essen gehen und relaxen konnten. Unbeirrbar hatte er für die Genehmigung und die Finanzierung gekämpft. Und entgegen allen Erwartungen war der Pier 39 innerhalb eines einzigen Jahres vollendet worden.
    Azrael war kein junger Mann und gewiss kein Tourist. Aber weil der Pier 39 das System und alle Pessimisten eines Besseren belehrt hatte, hielt er sich hier am liebsten auf, wann immer er San Francisco besuchte.
    In dieser Nacht war der Pier wunderschön. Auch jetzt steuerte Az ihn an.
    Während der Wochenenden war der Pier überfüllt. Aber um zehn Uhr am Sonntagabend, sechs Stunden früher als in Schottland, beendeten die Touristen allmählich ihre kurze Flucht aus der Realität. Straßenkünstler traten ein letztes Mal auf, Musiker packten ihre Instrumente ein und inspizierten ihren Verdienst, Bettler versammelten sich, um ihre Tageseinnahmen zu zählen oder zu teilen.
    Die Nachzügler verschwanden, in den Restaurants erloschen die Lichter, die Reinigungskolonnen entfernten sich mit Besen und Schaufeln. Klirrend wurden Müll- und Recyclingtonnen geleert. Auf den Holzplanken des Piers hallten Azraels Stiefel wider, als er im Schatten eines Ladens landete, in dessen Schaufenster Marionetten hingen.
    Nun war der Pier völlig menschenleer. Nachdem die Geschäfte und Lokale geschlossen hatten, sah niemand einen Grund, noch länger hierzubleiben. Nur das Geheul der Seelöwen an der Südseite durchbrach die unheimliche Stille.
    Langsam verließ Az das Dunkel und näherte sich der Bühne, auf der die Straßenkünstler tagsüber ihr Publikum unterhielten. Dahinter stand ein schönes Karussell, und er malte sich aus, wie es zur Betriebszeit ratternd und von Musik begleitet in einem Farbenrausch rotierte, wie schreiende Kinder Schlange standen, um für drei Dollar auf Drachen oder Meerestieren zu reiten. Jetzt ruhte die komplexe Konstruktion schweigend unter einer großen Plastikplane.
    Dies alles nahm Az mit jener stillen Ehrfurcht wahr, die er empfand, wann immer die Echos der Welt auf ihn einwirkten. Die Nacht war erfüllt von Nachbildern der Menschen, die kamen und gingen, kauften und verkauften, lächelten und einander zum Abschied winkten. Wenn er Stunden später ihren Schritten folgte, blieben nur Erinnerungen. Die rochen nach Zuckerwatte und Waffeln und fühlten sich an wie Liebkosungen von Geistern – noch vorhanden und doch entschwunden.
    Azrael schlenderte über den Pier zu den Segelbooten, die vor der Nordseite ankerten, vorbei an Möwen, die um den Rest eines Hotdogs kämpften. Am hölzernen Geländer blieb er stehen und ließ den Wind durch sein Haar wehen. Dann schloss er die Augen und sandte eine mentale Botschaft aus.
    Derzeit tourte Valley of Shadow durch die Staaten. Mithilfe des Herrenhauses erschienen Az und die Mitglieder seiner Band immer rechtzeitig am Schauplatz ihrer Shows. In zwei Wochen sollten sie in San Francisco auftreten. Dann würde auch Sophie hier sein. Und Azrael wusste, sie würde die Chance nutzen, das Spektakel zu sehen. Sofern sie nicht die Nerven verlor, wenn er sie einlud.
    Nun, das würde er verhindern.
    Zwei Wochen hatte er Zeit, um seinen Charme zu versprühen, ihren Widerstand zu überwinden und ihr Vertrauen zu gewinnen. Letzteres würde am schwierigsten sein, denn dabei nutzte ihm seine magische Macht nichts. So stark übernatürliche Kreaturen auch sein mochten, sie konnten niemanden zwingen, sie zu lieben. Gewiss, es gab Drogen, die Frauen schwächten oder sexuell erregten, und Vampirkräfte, die sie unterjochten. Aber wahre Liebe würde Az nur ernten, indem er sie sich verdiente.
    Und wie er sich eingestand, wollte er auch gar nichts anderes. Seit er Sophie neben Juliette am Altar gesehen hatte, wusste er, dass sie ein Teil

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