Azrael
Pflegevater, seine Waffe.
Schmerzhaft fing ihr Herz an zu rasen, während die Erinnerungen lückenlos auf sie einstürmten. Aus ihrer Kehle drang ein halb erstickter Schrei, und sie taumelte nach hinten, bis ihre Hüfte gegen das Bettgestell stieß. Da verlor sie das Gleichgewicht und stürzte.
Die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, saß sie am Boden und wiegte sich vor und zurück, vor und zurück. Was sie getan hatte, erfüllte sie mit kaltem Grauen.
Sie hatte jemanden getötet. Gewiss, er war ein schrecklicher Mann gewesen, der sie hatte vergewaltigen und ermorden wollen. Aber irgendwie schien das keinen großen Unterschied zu machen. Das Schuldgefühl änderte sich nicht. Wie eine stickige pechschwarze Decke lag es auf ihr und drohte sie mit dem Gewicht der Wahrheit zu erdrücken.
Doch das war noch nicht alles.
Azrael ist ein Vampir.
Es dauerte einen Moment, bis ihr die Tragweite dieser Tatsache bewusst wurde.
Oh, mein Gott, Azrael ist ein Vampir.
Keiner der Brüder war über die Fähigkeit des einstigen Todesengels informiert gewesen, die Barrieren von Samaels Festung zu überwinden und das Gebäude uneingeladen zu betreten. Sam wusste es. Aber Sam wusste alles. Zumindest schien es so.
Was Azrael betraf, gab es sehr viel, wovon Michael und die anderen nichts ahnten. Sein Wesen als Mann und Engel war von Einsamkeit geprägt. Andersartig und mysteriös, stand er stets etwas abseits. Dagegen war er machtlos. Und so hatte er’s akzeptiert.
Als Az direkt in Samaels Büro im fünfundsechzigsten Stockwerk des ehemaligen Sears Tower das Schattenreich verließ, beendete Sam seine Schreibarbeit erst und legte den Füllhalter beiseite, ehe er kein bisschen überrascht aufblickte. Die sturmgrauen Augen in seinem unglaublich schönen Gesicht funkelten. Ansonsten zeigte seine Miene keine Regung.
Zum Glück war er allein. Normalerweise wurde er von seinen Gehilfen umringt – Monster aus der übernatürlichen Welt, die er seinem Willen unterworfen und gezwungen hatte, seine Befehle bis in alle Ewigkeit zu befolgen. In diesem Moment sah es so aus, als könnten Azrael und Samael ihre Geschäfte ungestört erledigen.
Lautlos trat Az aus dem Schatten des Bücherregals hervor und ging in die Mitte des Büros.
»Ich vermute, du besuchst mich aus schwerwiegenden Gründen«, begann Sam, erhob sich geschmeidig und schlenderte um seinen Schreibtisch herum. Wie üblich trug er einen exquisiten, maßgeschneiderten dunkelgrauen Anzug. »Sag’s mir.« Ein schwaches Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Während die beiden langsam aufeinander zugingen, kollidierten ihre Essenzen – Machtzirkel, die einander attackierten und unsichtbare Funken negativer Energie versprühten. Drei Schritte voneinander entfernt, blieben sie stehen. Aufmerksam und vorsichtig musterte Azrael den berüchtigten Erzengel.
»O ja, du musst dich hüten.« Sam schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das jede Frau betört hätte. »Doch das wusstest du, bevor du dich in meine Schatten gewagt hast.«
Allerdings, dachte Az. Hier befand er sich außerhalb seines Elements. Aber das war egal, er hatte keine Wahl. »Die Adarianer haben Sophie entführt«, erklärte er, obwohl er annahm, Sam hätte das bereits erfahren. »Ich muss wissen, wo sie ist.«
»Natürlich.« Samael legte den Kopf schief, seine anthrazitfarbenen Augen glitzerten. »Sicher weißt du auch, dass meine Hilfe etwas kostet, König Azrael. « Leise, fast neckisch sprach er die Anrede aus, und Az schmeckte Blut im Mund.
Seine Kiefer waren zu verkrampft, seine Zähne zu scharf, seine Geduld fast am Ende. »Was verlangst du?«
Als Sam die Brauen hob, wünschte Az nicht zum ersten Mal seit seiner Ankunft auf der Erde, er könnte die Gedanken des anderen Erzengels so wie die aller anderen Kreaturen lesen. So wie er mein Gehirn ergründet.
Jetzt erlosch Samaels Lächeln, und Azrael glaubte Stürme zu beobachten, die sich in den Augen des Gefallenen zusammenbrauten. Da entstand eine Finsternis, eine Tiefe, die auf … Probleme hinwies.
Sam sank auf ein Ledersofa, und Azrael schaute zu den gigantischen Bürofenstern, die einen Blick auf den See und die nächtlichen Lichter von Chicago boten. Der Himmel erhellte sich bereits ein wenig, und die drohende Morgendämmerung verstärkte Az’ Unbehagen. Davon abgesehen, war das Panorama spektakulär. Schon immer hatte Samael sich nur mit dem Allerbesten begnügt.
»… was auch für meinen Preis gilt«, unterbrach Sam die Gedanken
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