Azrael
war. Dort hatte sie sich vorhin nicht befunden. Sie konnte höchstens achtzehn Jahre alt sein. Auf ihrer Stirn zeigten sich ein paar Aknepickel, die übrige Haut schimmerte jugendlich und glatt. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem geflochtenen Pferdeschwanz zusammengebunden, aus dem einige Strähnen heraushingen, Mascaraspuren schwärzten ihre Wangen. In ihrem Mund steckte ein Knebel, Stricke schnitten in ihr Sweatshirt und die Jeans, verschnürten den ganzen, an den Metallpfahl gepressten Körper. Nichts im Hof stützte den Pfosten. Nur die Gefangene.
Entsetzt zuckte Sophie zusammen.
Nun strich Gregori über die Kehle der jungen Frau. In seiner Hand glänzte Stahl und reflektierte die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, bevor die Klinge die Halsschlagader des Mädchens durchtrennte.
»Neiiiin!« Sophies Schreckensschrei entrang sich ihrer Brust qualvoll. Für einen grausigen Moment war sie wie versteinert in Raum und Zeit – unfähig, sich zu bewegen, als würden sie gierige, neidische Hände längst Verstorbener festhalten. Aber der Moment verstrich, und sie stürmte zu der schwer verletzten Gefangenen.
Mit unnatürlich geweiteten Augen starrte die junge Frau ihr entgegen. Blut hatte ihr Sweatshirt rot gefärbt. Verzweifelt legte Sophie ihre Hände um den Hals des Teenagers und tastete nach der Schnittwunde, die sie schließen wollte. Genauso gut hätte sie versuchen können, nach Fischflossen zu greifen. Die Haut war nass und glitschig. Wirkungslos tauchten ihre Finger in den tödlichen Schnitt, der von Gregoris Messer stammte.
»Nein, o Gott, bitte, nein!«, stöhnte sie. Irgendwie hatten sich die Stricke gelöst, die junge Frau fiel zu Boden. Sophie sank mit ihr hinab, umschlang den schlaffen Körper, bemühte sich erneut, die Wunde zu versiegeln.
Nur mehr das Opfer und sie selbst schienen auf der Welt zu existieren. Die Augen des Mädchens rollten in den Kopf zurück.
»Nein, nein, nein, nein …« Was Sophie in einem fort schrie, wusste sie nicht mehr.
Du kannst sie heilen, Sophie. Wenn du es versuchst.
Und dann glitten ihre Hände vom Hals des Mädchens zur blutüberströmten Brust hinunter. Kein Gedanke, kein Plan. In ihren Ohren rauschte das Blut, das Universum hatte sich entfernt. Sie sah einfach nur die Wunde, spürte die Nähe des Todes, wusste, dass sie nicht wollte, was hier geschah.
Du kannst es …
Ob es ihr eigener Gedanke war, würde sie niemals wissen. Als sich ihre Handflächen erwärmten, schloss sie die Augen. Die Hitze drang bis in die Fingerspitzen, wurde stärker, trocknete das nasse, blutige Sweatshirt und wanderte durch die Handgelenke und Arme, verscheuchte den kalten Wind über der Felseninsel wie eine freundliche Flamme.
Nun erwärmte sich auch Sophies Brust, ihr Kopf sank in den Nacken. Sie fühlte sich schwach und ein bisschen schwindlig, aber zufrieden, und die grausige Angst, die sie eben noch gepeinigt hatte, war verflogen. Obwohl kein Laut und kein Hinweis verrieten, dass sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, wusste sie es. Alles war gut. Langsam zog sie ihre Hände zurück, hob den Kopf und die Lider.
Noch immer steckte der Knebel im Mund der jungen Frau. Aber ihre Augen waren nicht mehr so weit aufgerissen, und die Atemzüge drangen nicht mehr keuchend und röchelnd durch das zusammengeknüllte Tuch, sondern in einem ruhigen, entspannten Rhythmus. Die Schnittwunde war verschwunden, die Haut am Hals geheilt.
»Bedenken Sie, was Sie auf der Brücke bewirkt hätten.« Hinter Sophie erklang Gregoris tiefe, melodische Stimme. Sie stellte sich den Unfall vor, den Laster, der durch die Luft gestürzt war und die Calliope zertrümmert hatte. »Oder was Sie hätten tun können, wenn Ihre Pflegeväter außer Kontrolle gerieten.«
Da die bösen Erinnerungen in ihr aufstiegen, verkrampfte sich ihr Magen. »Das verstehe ich alles nicht«, flüsterte sie. Was hatte sie im Morgengrauen auf diese Insel geführt? Wieso war der Maskierte, der Todesengel Azrael, in ihr Leben getreten? Warum war sie ein Sternenengel und besaß dieses Talent? Und warum erst jetzt, für so vieles zu spät?
Wie sollte sie begreifen, was in dieser übernatürlichen Welt voller magischer Wesen und schicksalhafter Romanzen geschah? Nur eins wusste Sophie: Ein Teil von ihr bedauerte, dass sie ihre beste Freundin an einen Erzengel verloren hatte, wie auch den Verlust ihrer eigenen Freiheit durch das gleiche Schicksal.
Ein anderer Teil schien sich zurückzulehnen, tief durchzuatmen und die Tatsachen zu
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