Azraels Auftrag (German Edition)
Sie blickte auf die Wellen, die sich tief unter ihr auf der Oberfläche des Schallmaars brachen.
„Nein, Carlos, ich lasse dich nicht alleine“, sagte Eleeya, fast flüsternd.
Dann trat sie an den Rand der Klippe, die Arme weit ausgestreckt, und wie in Zeitlupe beugte ihren Oberkörper nach vorne und ließ sich fallen.
Kopfüber stürzte sie der zerklüfteten Klippe entgegen. In weniger als einer halben Minute würde Eleeyas Körper den Boden erreichen.
Ihre Gedanken waren nicht mehr an diesem Ort.
„ Carlos...“
Noch während sie fiel, hörte Eleeya in ihren Gedanken Carlos’ warme Stimme antworten.
NGZ0082, Dreihunderttausend Jahre früher
YAA war stolz auf seine vielen Kinder und Kindeskinder. Er liebte jedes einzelne der vielen Milliarden, mochten sie noch leben oder längst von ihm wieder aufgenommen sein.
Bereits schon sehr früh hatte YAA die beiden latenten Nervenknotenzentren der CHRA untersucht und in den nächsten Generationen einige harmlose Mutationen ausgelöst. YAA erkannte, dass er seine Kinder besser anleiten konnte, wenn er vor Ort, also mitten unter ihnen war, um durch seine Präsenz über die anderen wachen konnten. Aus der Position dieser wenigen, lenkenden Individuen heraus konnte er die Anderen leiten und behüten.
Also formte er den einen Nervenknotenbereich der CHRA so aus, dass es Splitter seiner selbst aufnehmen konnte. Dieser Splitter würde zwar ein eigenes Bewusstsein haben, aber als Teil von ihm immer mit ihm in Verbindung stehen.
Das zweite Nervenknotenzentrum diente nach wie vor den einfachen, täglichen Routinearbeiten.
YAA wählte aus allen Stämmen jeweils ein Lebewesen aus, auf dem er einen Splitter seiner selbst übertrug.
Erst jetzt konnte man davon reden, dass es in der Gemeinschaft der CHRA vereinzelte Individuen gab.
Diese Individuen würden ihre geistigen und individuellen Komponenten innerhalb des Stammes von Generation zu Generation weitergeben, währenddessen die anderen Mitglieder der Familie nur ihr Handlungshirn benutzten. Die Anderen waren die geschätzten Drohnen, die den gesamten Staat am Leben hielten.
Und sollte mal ein Individuum, also ein Teil seines Selbst, frühzeitig sterben - nun, das wäre zwar sehr tragisch, ist aber einfach nur ein Teil des ewigen Kreises.
YAA würde dann einfach das Bewusstsein wieder in sich aufnehmen, um es in das nächste, leerstehende Trägergefäß des entsprechenden Stammes zu übertragen.
Das war gut so, die Kette der Individuen würde für immer erhalten bleiben.
Waldmond, Polarregion
Im den nächsten Minuten stand Mika einfach nur im Schnee und starrte in den Himmel, während seine Gedanken immer wieder im Kreis trieben.
„ Was mache ich hier überhaupt noch“, fragte er sich. „Selbst wenn ich die tieferen Regionen erreiche, ändert sich eigentlich nichts. Es gibt niemanden, der mich von diesem blöden Mond abholt, davon abgesehen hänge ich in irgendeinem unbekannten Winkel dieser Galaxis. Die Erde werde ich sowieso nicht mehr sehen, und selbst wenn – es gibt dort niemanden mehr, der auf mich wartet.“
Mika spürte, wie sich abermals seine Kehle zuschnürte.
„ Anne, ich vermisse dich. Du ahnst nicht, wie sehr du mir fehlst. Ich verspreche dir, ich werde bald bei dir sein.“
Mika tastete nach der linken Beintasche. Seine Hand glitt in die entstandene Öffnung und ertastete in einer weiteren Unterteilung eine kleine Kugel. Im selben Moment wurde ihm wieder bewusst, wie gut sein Tastsinn trotz Handschuhe funktionierte.
Er ergriff mit Daumen und Zeigefinger die kleine Kugel, zog sie aus der Tasche und betrachtete sie. Obwohl es Nacht war, erkannte er durch das Helmdisplay deutlich die glänzend rote Oberfläche der Kugel, die kaum größer war als eine Erbse und erinnerte sich an Eleeyas eindringliche Worte: „Mika, Carlos, diese Kapsel wirkt innerhalb weniger Sekunden. Wenn ihr sie geschluckt habt, kann euch nichts mehr helfen. Sollte wider Erwarten alles fehlgeschlagen sein, und euch ein qualvoller Tod bevorstehen, ist dies euer letzter Ausweg. Aber ich weiß, dazu wird es nicht kommen.“
Mikas Gesicht verzerrte sich zu einem Grinsen. „Doch, Anne, genau dazu ist es gekommen, alles, einfach alles ist schief gegangen. Und genau dieser qualvolle Tod steht mir bevor. Selbst wenn ich Wasser und Nahrung finden sollte, würden die Einsamkeit und die Sehnsucht nach dir mich vollständig zerbrechen. Ich kann nicht mehr, nein, ich möchte einfach nicht mehr.“
Seine rechte
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