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in alle Richtungen weisen: Andachtszentrum, Rondell-Raum, Terrassencafé, Strandcafé. Auf einem Plakat in der Nähe ist ein strahlender junger Mann in einem hellroten Polohemd und Turnschuhen zu sehen: »Auf der Suche nach einer neuen Ausrichtung? Probieren Sie’s mal mit geistlicher Lenkung!«
Ich suche den Buchladen unter freiem Himmel, wo ich mich mit Adam McHugh treffen will, einem hier ansässigen evangelikalen Pastor, mit dem ich korrespondiert habe. McHugh ist ein erklärter Introvertierter, und wir haben uns quer durch Amerika darüber unterhalten, wie es sich anfühlt, ein stiller Intellektueller in der evangelikalen Bewegung zu sein – besonders in einer Spitzenposition. So wie die Harvard Business School machen auch evangelikale Kirchen Extraversion oft zur Voraussetzung für eine Führungsposition, manchmal ganz explizit. »Der Geistliche muss … extravertiert sein, jemand der Teamgeist hat und Mitglieder und Neuankömmlinge enthusiastisch für sich einnehmen kann«, heißt es in einer Stellenausschreibung für den stellvertretenden Rektor einer evangelikalen Gemeinde mit 1400 Mitgliedern. Ein Hauptpastor an einer anderen Kirche gibt online zu, dass er Gemeinden, die einen neuen Geistlichen suchen, rät, den Anwärter oder die Anwärterin zu fragen, wie sie auf der Myers-Briggs-Skala abschneiden. »Wenn der erste Buchstabe des Ergebnisses kein ›E‹ für extravertiert ist«, so sein Rat, »überlegen Sie es sich noch einmal … Ich bin sicher, unser Herr war ein Extravertierter.« Priester müssen heutzutage ebenso sehr Geschäftsleute wie Seelenhirten sein.
McHugh passt nicht zu dieser Beschreibung. Er entdeckte seinen introvertierten Charakter in den ersten Semestern am Claremont McKenna College, als ihm klarwurde, dass er frühmorgens aufstand, um bei einer Tasse dampfenden Kaffees Zeit für sich allein zu haben. Er ging gern auf Partys, aber verließ sie frühzeitig. »Die anderen wurden immer lauter und ich immer stiller«, hatte er mir erklärt. Bei einem Myers-Briggs-Persönlichkeitstest fand er heraus, dass es den Begriff introvertiert gibt, der die Art Menschen beschreibt, die ihre Zeit gern so verbringen wie er.
Zuerst genoss McHugh es, mehr Zeit für sich freizuschaufeln. Doch dann wurde er in der evangelikalen Bewegung aktiv und fing an, Schuldgefühle zu haben, wenn er allein sein wollte. Er glaubte sogar, dass Gott seine Entscheidung fürs Alleinsein – und damit auch ihn selbst – missbilligte.
»Die evangelikale Bewegung verknüpft Hingabe mit Extraversion«, sagte McHugh. »Die Betonung liegt auf der Gemeinschaft; man soll an immer mehr Programmen und Veranstaltungen teilnehmen und immer mehr Menschen kennenlernen. Es schafft für viele Introvertierte einen konstanten Druck, wenn sie dieser Vorgabe nicht entsprechen. Und in einer religiösen Welt steht mehr auf dem Spiel, wenn Sie diesen Druck spüren. Es fühlt sich nicht an wie Ich mache es nicht so gut, wie ich es gern täte . Es fühlt sich an wie Gott ist nicht zufrieden mit mir .«
Außerhalb der evangelikalen Gemeinschaft klingt das erstaunlich. Seit wann gehört Alleinsein zu einer der sieben Todsünden? Aber einem evangelikalen Mitstreiter würde McHughs Gefühl des spirituellen Scheiterns vollkommen einleuchten. Der zeitgenössischen evangelikalen Bewegung zufolge ist jeder Mensch, dem man nicht begegnet und den man infolgedessen nicht bekehren kann, eine Seele, die man hätte retten können. 17 Sie betont auch den Aufbau des Gemeinschaftslebens unter den bekennenden Mitgliedern, wobei viele Kirchen ihre Schäfchen anhalten (und einige sogar verpflichten), an zusätzlichen Gruppen teilzunehmen, die sich während der Woche treffen und jedem erdenklichen Thema widmen – Kochen, Immobilieninvestition, Skateboardfahren. Jede Veranstaltung, die McHugh früh verließ, jeder Morgen, den er allein verbrachte, jede Gruppe, an der er nicht teilnahm, waren eine vertane Chance, sich mit anderen zu verbinden.
Doch wenn es paradoxerweise etwas gab, was McHugh wusste, dann, dass er nicht allein war. Ihm fiel auf, dass es eine große Anzahl von Menschen in der evangelikalen Bewegung gab, die mit demselben Konflikt zu kämpfen hatten. Er wurde zum presbyterianischen Priester geweiht und arbeitete mit einem Team von Studentenführern am Claremont College, von denen viele Introvertierte waren. Das Team wurde zu einer Art Werkstatt, um mit introvertierten Formen der Leitung und des geistlichen Amts zu experimentieren. Sie
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