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zu kommunizieren. Jemand, der sich in einem Saal mit 200 Zuhörern niemals zu Wort melden würde, stellt womöglich ohne Bedenken einen Blog ins Netz, den 2000 oder zwei Millionen Menschen lesen. Jemand, dem es schwerfällt, sich mit Fremden bekannt zu machen, stellt vielleicht eine Internetpräsenz her und dehnt dann diese Beziehungen auf das echte Leben aus.
Was wäre geschehen, wenn das Survival-Rollenspiel an der Harvard Business School online stattgefunden hätte und alle Stimmen zu Wort gekommen wären – die von Leuten wie Rosa Parks, Craig Newmark und Darwin Smith? Was, wenn es sich um eine Gruppe tatenfreudiger Schiffbrüchiger unter der Leitung eines Introvertierten gehandelt hätte mit der Gabe, sie in aller Ruhe zu einem Beitrag zu ermuntern? Was, wenn sich ein Introvertierter und ein Extravertierter die Führung geteilt hätten wie Rosa Parks und Martin Luther King? Hätten sie das optimale Ergebnis erreicht?
Das lässt sich unmöglich beantworten. Noch nie hat jemand eine Studie durchgeführt, um diese Fragen zu untersuchen – und das ist bedauerlich. Es ist nachvollziehbar, dass an der HBS so viel Wert auf Selbstvertrauen und rasche Entscheidungsfähigkeit gelegt wird. Wenn durchsetzungsfähige Menschen gewöhnlich ihren Willen bekommen, dann sind solche Fähigkeiten nützlich für Führungskräfte, deren Arbeit darauf beruht, andere zu beeinflussen. Entschiedenheit flößt Vertrauen ein, während Schwanken (oder auch nur der Anschein des Schwankens) die Moral untergraben kann.
Doch man kann den Bogen auch überspannen; unter bestimmten Umständen sind ruhigere, bescheidenere Führungsstile vielleicht genauso effektiv oder noch effektiver. Als ich den Campus der HBS verließ, hielt ich an, um mir eine Ausstellung mit sehenswerten Cartoons des Wall Street Journals in der Eingangshalle der Bibliothek anzuschauen. Auf einem war ein hagerer Manager abgebildet, der sich eine steil abfallende Gewinnkurve anschaute. »Daran hat nur Fradkin Schuld«, sagte er zu seinen Kollegen. »Er hat keine Ahnung von Geschäften, aber großartige Führungsqualitäten, und alle folgen ihm auf dem Weg in den Ruin.«
Liebt Gott Introvertierte?
Das Dilemma eines Evangelikalen
Wenn die Harvard Business School eine Enklave der Weltelite an der amerikanischen Ostküste ist, dann ist meine nächste Station eine Institution, die ziemlich exakt ihr Gegenteil darstellt. Sie hat ihren Sitz auf einem weitläufigen Gelände von 50 Hektar in der ehemaligen Wüste und den heutigen Außenbezirken von Lake Forest, Kalifornien. Anders als in Harvard ist hier jeder zugelassen, der dabei sein möchte. Familien schlendern über die palmengesäumten Plätze und Gehwege in freundlichen Pulks. Kinder tollen in künstlich angelegten Bächen und Wasserfällen. Mitarbeiter winken liebenswürdig, wenn sie in kleinen Elektroautos vorbeisummen. Man kann herumlaufen, wie man will: Turnschuhe und Flipflops sind völlig in Ordnung. Über diesen Campus herrscht nicht eine Riege geschniegelter Professoren, die mit Begriffen wie Protagonist und Fallmethode um sich werfen, sondern eine gütige nikolausähnliche Gestalt im Hawaii-Hemd mit sandfarbenem Spitzbart.
Mit einer durchschnittlichen wöchentlichen Besucherzahl von 22 000, Tendenz steigend, ist die Saddleback Church eine der größten und einflussreichsten evangelikalen Kirchen in ganz Amerika. An ihrer Spitze steht Rick Warren, Autor von Leben mit Vision : Wozu um alles in der Welt lebe ich , 16 einem der auflagenstärksten Bücher aller Zeiten – jener Geistliche, der das Bittgebet bei Präsident Obamas Amtseinführung sprach. Saddleback ist nicht wie die Harvard Business School für weltberühmte Führungskräfte gedacht, aber dennoch übt diese Kirche einen mächtigen gesellschaftlichen Einfluss aus. Evangelikale Spitzenkleriker haben das Ohr von Präsidenten, dominieren Tausende Stunden Fernsehsendezeit und betreiben Multimillionen-Dollar-Geschäfte; die bekanntesten unter ihnen besitzen eigene Produktionsfirmen, Aufnahmestudios und Vertriebsverträge mit Medienriesen wie Time Warner.
Aber Saddleback hat noch etwas anderes mit der Harvard Business School gemein: Sie ist der Persönlichkeitskultur verpflichtet – und propagiert sie auch.
An einem Sonntagmorgen im August 2006 stehe ich an einem Knotenpunkt, an dem viele Wege auf dem Gelände von Saddleback zusammenlaufen. Ich konsultiere ein Schild, eines in der Art, wie man es in Disneyworld sieht, mit fröhlichen Pfeilen, die
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