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Titel: B00B5B7E02 EBOK Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cain
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aufgeschlagen auf dem Pult lag, bat Charles sie jedoch einzuschätzen, wie hoch ihre Angst auf einer Skala von 1 bis 10 war.
    »Mindestens 7«, sagte Lateesha.
    »Lass dir Zeit«, sagte er. »Es gibt nur wenige Leute, die ihre Ängste komplett überwinden können, und die leben alle in Tibet.«
    Lateesha las das Gedicht klar und ruhig vor mit einem nur unmerklichen Zittern in der Stimme. Als sie fertig war, strahlte Charles vor Stolz.
    »Bitte steh auf, Lisa«, sagte er und wandte sich an eine attraktive junge Marketingleiterin, die glänzendes schwarzes Haar hatte und einen funkelnden Verlobungsring trug. »Du bist mit dem Feedback dran. Sah Lateesha nervös aus?«
    »Nein«, antwortete Lisa.
    »Ich hatte aber wirklich Angst«, sagte Lateesha.
    »Keine Sorge, man hat es dir nicht angemerkt«, erwiderte Lisa.
    Die anderen nickten mit Nachdruck. »Man hat es dir überhaupt nicht angemerkt«, echoten sie.
    Lateesha setzte sich und sah erfreut aus.
    Als Nächstes war ich an der Reihe. Ich stand an einem provisorischen Rednerpult – eigentlich einem Notenpult – und schaute die Gruppe an. Die einzigen Geräusche im Raum waren das Surren des Deckenventilators und der Verkehrslärm, der von draußen hereindrang. Charles bat mich, mich vorzustellen. Ich holte tief Luft.
    »Hallooo!!!«, rief ich und hoffte, ich würde dynamisch klingen.
    Charles sah alarmiert aus. »Sei einfach du selbst«, sagte er.
    Meine erste Übung war leicht: Ich musste nur ein paar Fragen beantworten, die andere mir zuriefen. Wo wohnst du? Was bist du von Beruf? Wo hast du Jura studiert?
    Ich beantwortete die Fragen auf meine normale, leise Art. Die Gruppe hörte aufmerksam zu.
    »Hat jemand noch weitere Fragen an Susan?«, fragte Charles. Die Teilnehmer schüttelten den Kopf.
    »Nun, Dan«, sagte Charles und nickte einem strammen, rothaarigen Burschen zu, der wie einer der CNBC-Journalisten aussah, die direkt von der New Yorker Börse berichten. »Du bist Investmentbanker und hast hohe Ansprüche. Was meinst du, sah Susan nervös aus?«
    »Überhaupt nicht«, antwortete Dan.
    Die übrigen Gruppenteilnehmer nickten. »Überhaupt nicht nervös«, sagten sie alle – so wie sie es auch bei Lateesha gemacht hatten.
    »Du wirkst so offen«, fügten sie hinzu.
    »Du bist als total selbstbewusst herübergekommen!«
    »Du hast Glück, dir fällt immer was ein.«
    Ich setzte mich und fand mich ziemlich gut. Aber ich stellte bald fest, dass Lateesha und ich nicht die Einzigen waren, die diese Art Rückmeldung bekamen. Einige andere erhielten sie auch. »Du hast so ruhig ausgesehen!«, bekamen sie zu ihrer sichtlichen Erleichterung zu hören. »Wer es nicht weiß, würde es nie merken! Was willst du bloß in diesem Kurs?« Zunächst begann ich mich zu fragen, warum ich diese Bestätigung so sehr schätzte. Dann begriff ich, dass ich am Seminar teilnahm, weil ich die Grenzen meiner Persönlichkeit bis zum Äußersten dehnen wollte. Ich wollte gut vor einer Gruppe sprechen, ohne schrecklich nervös zu sein oder so zu wirken. Die Bestätigungen dienten mir als Beweis, dass ich auf dem Weg war, dieses Ziel zu erreichen. Ich hatte den Verdacht, dass die Rückmeldungen, die ich bekam, übermäßig wohlwollend waren, aber das spielte keine Rolle. Letztlich zählte nur, dass ich ein Publikum angesprochen hatte, das mir wohlgesinnt war, und diese Erfahrung tat mir gut. Ich hatte begonnen, mich gegen die Schrecken eines Vortrags zu desensibilisieren. Ich hatte mich wie ein Gummiband gedehnt – aber nicht so weit, dass es riss.
    Seither habe ich viele Vorträge vor anderen gehalten – vor Gruppen mit zehn und einem Saal mit Hunderten von Leuten. Ich habe versucht, am Rednerpult in meiner Wohlfühlzone zu bleiben. Das beinhaltet für mich ganz bestimmte Schritte – dazu gehört, dass ich jede Rede als kreatives Projekt behandle, sodass ich, wenn der große Tag kommt, das Empfinden des tiefen Eintauchens erlebe, das ich so sehr liebe. Ich versuche auch, Themen auszuwählen, die mich tief bewegen. Es ist erstaunlich, um wie viel zentrierter ich mich fühle, wenn mir ein Thema wirklich wichtig ist. Das ist natürlich nicht immer möglich. Manchmal müssen Redner besonders im Beruf über Themen sprechen, die ihnen nicht sonderlich am Herzen liegen. Ich glaube, dass dies für Introvertierte schwieriger ist, weil sie ein Problem damit haben, künstliche Begeisterung auszustrahlen. Aber diese Unflexibilität hat einen verborgenen Vorteil: Sie kann die Motivation

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