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dafür liefern, einen harten, aber lohnenswerten Neuanfang im Beruf zu machen, wenn wir zu oft über Themen sprechen müssen, die uns kaltlassen.
Einen Vortrag zu halten fällt mir heutzutage nicht mehr so schwer; mein Frontalkortex scheint seine Aufgabe, den Mandelkern zu zähmen, ziemlich gut zu erfüllen. Aber ich lerne immer noch weiter, meine Angst zu bewältigen. Und ich weiß, dass ich am anfälligsten in Stresszeiten bin, wenn mein Kortex noch anderes zu tun hat, als nur meinen Mandelkern zu beruhigen. Ich werde vermutlich lebenslang mit der Angst kämpfen, vor anderen zu sprechen, und ich habe das akzeptiert.
Tatsächlich glaube ich, dass Akzeptanz eines der Geheimnisse für Introvertierte ist, wenn sie vor Menschen sprechen wollen – wir müssen die Angst akzeptieren, die uns nie wirklich verlässt, aber lernen, Frieden mit ihr zu schließen. Wir müssen das eigene zurückhaltende Selbst akzeptieren und dennoch lernen, mutig zu sprechen. Und wir müssen akzeptieren, dass die einzige Art und Weise, die Angst auf einem erträglichen Niveau zu halten, paradoxerweise darin besteht, so oft vor anderen zu sprechen, wie wir es verkraften können.
Was die anderen Kursteilnehmer angeht, so standen sie alle an verschiedenen Punkten auf ihrem Weg, die Angst vor dem Sprechen zu überwinden. Ich hoffe, dass es ihnen inzwischen gelungen ist, nicht nur um ihrer selbst willen. Vor anderen zu sprechen ist eines der mächtigsten Instrumente, das uns zur Verfügung steht, wenn wir unsere Ideen mitteilen wollen – speziell in einer Kultur, die die Selbstdarstellung so hoch schätzt wie die unsere –, und Introvertierte haben höchst wichtige Ideen mitzuteilen, ob ihnen dabei die Knie schlottern oder nicht.
KAPITEL 6
Franklin und Eleanor
Die Vereinigung von Selbstbewusstsein und Gewissen
Ein scheuer Mensch fürchtet sich, von Fremden wahrgenommen zu werden, aber das heißt nicht, dass er Angst vor ihnen hat. Er kann so mutig wie ein Held im Kampf sein und doch kein Selbstvertrauen haben, wenn es um Lappalien in der Gegenwart Fremder geht. 1
Charles Darwin
Ostersonntag 1939 am Lincoln Memorial in Washington. Marian Anderson, eine der außergewöhnlichsten Sängerinnen ihrer Generation, betritt die Bühne, hinter ihr die Statue des 16. amerikanischen Präsidenten. Sie ist eine klassische Schönheit mit schokoladenbrauner Haut und lässt ihre Blicke über ihr Publikum von 75 000 Zuhörern schweifen: Männer in steifen Hüten, Frauen im Sonntagsstaat, ein Meer aus schwarzen und weißen Gesichtern. »My country ’tis of thee«, intoniert Anderson mit gefühlvoller Stimme, während sie jedes Wort betont, »sweet land of liberty.« Das Publikum ist ergriffen und zu Tränen gerührt. Niemand hat geglaubt, dass dieser Tag je kommen würde.
Und ohne Eleanor Roosevelt wäre er auch nicht gekommen. 2 Zu Anfang desselben Jahres hatte Anderson geplant, in der Constitution Hall in Washington zu singen, aber die Frauenorganisation »Daughters of the American Revolution« (DAR), der der Saal gehört, hatte ihr wegen ihrer Hautfarbe abgesagt. Eleanor Roosevelt, deren Familie in der Revolution mitgekämpft hatte, trat daraufhin aus der DAR aus. Sie sorgte dafür, dass Anderson am Lincoln-Denkmal singen konnte, und entfachte damit einen nationalen Sturm der Entrüstung. Sie war nicht die Einzige, die protestiert hatte, aber es war Eleanor Roosevelt, die der Angelegenheit politische Durchschlagskraft bescherte, und dabei setzte sie ihren eigenen Ruf aufs Spiel.
Für Eleanor Roosevelt, der es von ihrem Wesen her unmöglich war, bei Problemen anderer Menschen wegzuschauen, waren solche Akte sozialen Gewissens nichts Bemerkenswertes. Aber andere sahen das Bemerkenswerte daran und zollten ihr dafür große Anerkennung.
»Das war etwas Einzigartiges«, erinnerte sich der afroamerikanische Bürgerrechtler James Farmer. »Franklin D. Roosevelt war Politiker. Er wog die politischen Folgen bei jedem seiner Schritte ab. Außerdem war er ein guter Politiker. Aber aus Eleonor sprach das Gewissen, und sie handelte wie ein Mensch, den das Gewissen treibt. Das war etwas anderes.« 3
Das war eine Rolle, die sie während ihres ganzen gemeinsamen Lebens mit ihrem Mann übernahm: Sie fungierte als seine Ratgeberin, sein Gewissen. Vielleicht hat er sie aus diesem Grunde geheiratet; denn in vielerlei Hinsicht waren sie ein sehr ungleiches Paar.
Sie lernten sich kennen, als er zwanzig war. Franklin, ein entfernter Cousin und gut situierter
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