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schwierig sein zu verstehen, was so attraktiv daran ist, sich dem Willen anderer zu beugen. Aber was für Menschen aus dem Westen wie Unterwerfung aussieht, kann vielen Asiaten als grundlegende Höflichkeit erscheinen. Don Chen, der amerikanische Student chinesischer Herkunft an der Harvard Business School, von dem schon in Kapitel 2 die Rede war, berichtete mir, dass er sich eine Zeitlang eine Wohnung mit einigen asiatischen Freunden und einem engen Freund aus Europa geteilt hatte, einem netten und lockeren jungen Mann, von dem Don dachte, er würde gut dazupassen.
Es kam zu Konflikten, als sein Freund aus Europa feststellte, dass sich das Geschirr in der Spüle stapelte, und die Asiaten bat, ihren gerechten Anteil am Abwasch zu übernehmen. Es war keine unsinnige Beschwerde, sagt Don, und sein Freund dachte, er habe sein Bitte höflich und achtungsvoll vorgetragen. Aber seine asiatischen Mitbewohner sahen das anders. Für sie hörte er sich barsch und ärgerlich an. Ein Asiat in dieser Situation, so Don, würde sorgfältiger auf den Ton seiner Stimme achten. Er würde sein Missfallen in Form einer Frage und nicht als Bitte oder Befehl vorbringen. Vielleicht würde er auch gar nichts sagen. Ihm wäre es nicht wert, wegen ein paar schmutziger Teller Unruhe in der Gruppe zu stiften.
Was für Menschen aus dem Westen wie asiatische Fügsamkeit aussieht, ist also in Wirklichkeit eine tiefempfundene Besorgnis um die Gefühle anderer. Wie der Psychologe Harris Bond sagt: »Nur Menschen aus einer Tradition der Direktheit würden die asiatische Art des Diskurses als ›Zurückhaltung‹ bezeichnen. Innerhalb der Tradition der Indirektheit hingegen könnte man sie als ›Respekt vor der Beziehung‹ bezeichnen.« Und der Respekt vor der Beziehung hat soziale Mechanismen zur Folge, die westlichen Betrachtern bemerkenswert erscheinen.
Aufgrund des Respekts vor der Beziehung drückt sich die soziale Angststörung, in Japan taijin kyofusho genannt, nicht wie in Amerika üblich als Furcht aus, sich selbst zu blamieren, sondern als Furcht, andere zu blamieren. Aufgrund desselben Respekts erleben tibetische Mönche inneren Frieden (und außergewöhnliche Glückszustände, wie Aufnahmen ihres Gehirns belegen), indem sie still über das Mitgefühl meditieren. Und aufgrund dieses Respekts entschuldigten sich Hiroshima-Opfer gegenseitig beieinander, dass sie überlebt hatten. »Ihre Zuvorkommenheit ist gut dokumentiert, aber sie ist herzzerreißend«, schreibt die Essayistin Lydia Millet. 9 »›Es tut mir leid‹, sagte ein Opfer und verbeugte sich, während sich seine Haut in Streifen von den Armen schälte. ›Es tut mir leid, dass ich noch am Leben bin und Ihr Baby nicht‹. ›Es tut mir leid‹, sagte ein anderer ernst, dessen Lippen auf die Größe von Orangen aufgeschwollen waren, an ein Mädchen gewandt, das neben seiner toten Mutter weinte. ›Es tut mir so leid, dass nicht ich stattdessen gestorben bin.‹«
Der östliche Respekt vor der Beziehung ist zwar bewundernswert und schön, doch dasselbe gilt auch für den westlichen Respekt vor der individuellen Freiheit, dem Selbstausdruck und der persönlichen Bestimmung. Es geht nicht darum, dass eines dem anderen überlegen ist, sondern dass ein tiefgreifender Unterschied hinsichtlich der kulturellen Werte eine große Auswirkung auf die Mentalität hat, die von der jeweiligen Kultur favorisiert wird. Im Westen haben wir uns dem Ideal der Extraversion verschrieben, während in einem Großteil Asiens (zumindest vor der Verwestlichung in den letzten Jahrzehnten) Schweigen immer noch Gold ist. Diese kontrastierenden Auffassungen beeinflussen, was wir sagen, wenn die Teller unserer Mitbewohner sich in der Spüle stapeln, und was wir nicht sagen, wenn wir in einem Universitätsseminar sitzen.
Sie machen auch deutlich, dass das Extravertiertenideal nicht so sakrosankt ist, wie wir vielleicht glauben könnten . Sollten Sie also tief im Innern geglaubt haben, dass es dem natürlichen Lauf der Dinge entspricht, wenn die Forschen und Kontaktfreudigen die Zurückhaltenden und Sensiblen dominieren, oder dass das Ideal der Extraversion der Menschheit angeboren ist, deutet die Landkarte der Mentalitäten auf eine andere Wahrheit hin: Jede Seinsweise – still oder gesprächig, vorsichtig oder kühn, gehemmt oder ungehemmt – ist jeweils ein charakteristischer Ausdruck der eigenen mächtigen Zivilisation, zu der sie gehört.
Paradoxerweise sind es unter anderem gerade die
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