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Rührseligkeit in Dichtung und Drama. Kavafy verschaffte uns klassische Erleichterung, die wir dem von der Mittelklasse so hoch geschätzten Melodramen ausgesetzt waren, wie sie Dickens’ Romane, romantische Gedichte und Verdis Opern repräsentieren.
Es überraschte mich zu hören, dass Maurice Tempelsman, der letzte Lebensgefährte von Jackie Kennedy Onassis, bei ihrer Beerdigung Kavafys Abschiedsgedicht Apoleipein o Theos Antonion (Der Gott verlässt Antonius) vorlas. Das Gedicht richtet sich an Marcus Antonius, der gerade seine Schlacht gegen Octavius verloren hat und von dem Gott Bacchus verlassen wird, der ihn bis dahin geschützt hatte. Es ist eines der erhebendsten Gedichte, die ich jemals gelesen habe, wunderschön, weil es ein Musterbeispiel für würdevollen Ästhetizismus darstellt – und wegen des sanften, aber bewegenden Tons in der Erzählstimme, die einem Mann Ratschläge erteilt, in dessen Schicksal sich das Blatt gerade auf verheerende Weise gewendet hat.
Das Gedicht spricht den mittlerweile besiegten und verratenen Antonius an (der Legende nach lief sogar sein Pferd zu seinem Feind Octavius über). Die Erzählstimme bittet ihn, einfach nur Abschied zu nehmen von ihr, Alexandria, der Stadt, die fortgeht. Sie bittet ihn, sein unglückliches Schicksal nicht zu beklagen, nicht die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, nicht zu meinen, dass ihn seine Ohren und Augen täuschen würden. Antonius, erniedrige dich nicht in solch vergeblicher Hoffnung. Antonius,
höre mit Bewegung zu, doch ohne feiges Bitten und Flehen.
Mit Bewegung. Nicht etwa ruhig und gefasst. An Gefühlen ist nichts falsch; sie zeugen nicht von mangelnder Würde – wir sind dafür geschaffen, Emotionen zu empfinden. Falsch ist es, nicht dem heldenhaften oder zumindest dem würdevollen Pfad zu folgen. Das bedeutet Stoizismus in Wahrheit. Es ist der Versuch des Menschen, mit der Wahrscheinlichkeit reinen Tisch zu machen. Ich will nicht gehässig sein und den Bann des Gedichtes und seiner Botschaft brechen, kann mich aber einiger zynischer Anmerkungen nicht enthalten. Einige Jahrzehnte später erfüllte Kavafy seine eigenen Forderungen nicht ganz, als er an Kehlkopfkrebs erkrankt war und im Sterben lag. Die Chirurgen hatten ihn seiner Stimme beraubt, und er pflegte unversehens in würdeloses Weinen auszubrechen und sich an seine Besucher zu klammern, um sie am Verlassen seines Sterbezimmers zu hindern.
Was für eine Geschichte! Ich sagte bereits, dass Stoizismus recht wenig mit der Forderung zu tun hat, die Fassung zu bewahren; wir glauben nur, dass es das bedeutet. Die Stoa der Antike wurde als intellektuelle Bewegung von einem Phönizier begründet, Zenon von Kition. Bis zum Zeitalter der Römer hatte es sich zu einer Lebensweise entwickelt, die auf einem System von Tugenden beruhte – im antiken Sinne, als Tugend als virtu gesehen wurde, eine Geisteshaltung, bei der die Tugend selbst ihr schönster Lohn ist. Es entstand ein Gesellschaftsmodell für einen Stoiker, so ähnlich wie später für den Gentleman viktorianischer Prägung. Stoische Prinzipien lassen sich so zusammenfassen: Ein Stoiker ist ein Mensch, der die Eigenschaften Weisheit, Redlichkeit und Tapferkeit in sich vereint. Daher ist ein Stoiker immun gegen die Wechselfälle des Lebens, denn er ist den Wunden überlegen, die uns die schmutzigen Tricks des Schicksals zufügen. Man kann jedoch alles übertreiben: Für den gestrengen Cato war es unter seiner Würde, menschliche Gefühle zu zeigen. Eine menschlichere Variante ist nachzulesen in Senecas Moralischen Briefen, ein tröstliches und überraschend lesbares Buch, das ich gerne an meine Freunde im Wertpapierhandel verteile (auch Seneca nahm sich das Leben, als ihn das Schicksal in die Enge trieb).
Zufall und persönliche Eleganz
Der Leser kennt meine Meinung über ungebetene Ratschläge und Predigten, wie man sich im Leben verhalten soll. Denken Sie daran, dass wir Ideen nicht wirklich begreifen können, wenn Gefühle ins Spiel kommen. Außerhalb des Klassenzimmers nutzen wir unser rationales Denken nicht. Selbsthilfebücher (selbst wenn sie nicht von Scharlatanen verfasst wurden) zeigen im Großen und Ganzen keine Wirkung. Gute, aufgeklärte (und »gut gemeinte«) Ratschläge und wortgewandte Predigten bleiben uns höchstens einige Augenblicke lang im Gedächtnis, wenn sie uns gegen den Strich gehen. Das Interessante am Stoizismus ist die Tatsache, dass er sich Würde und persönliche Ästhetik zunutze
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