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und Amos Tversky fanden dies bereits vor mehreren Jahrzehnten heraus. Ironischerweise bestand eine der von ihnen befragten Populationen nicht aus Menschen von der Straße, sondern aus professionellen Auguren, die am Jahreskongress eines Berufsverbandes teilnahmen. In einem inzwischen berühmten Experiment fanden sie heraus, dass die meisten Menschen – ob Prognosespezialisten oder Normalsterbliche – eine tödliche Flutwelle (bei der Tausende umkommen) infolge eines Erdbebens in Kalifornien für wahrscheinlicher halten als eine tödliche Flutwelle (mit mehreren tausend Opfern) irgendwo in Nordamerika (wozu zufällig auch Kalifornien gehört). Als Derivatehändler fiel mir auf, dass sich Menschen ungern gegen etwas Abstraktes versichern; ihre Aufmerksamkeit gilt immer den anschaulichen Risiken.
Dies führt uns zu einem noch gefährlicheren Aspekt des Journalismus. Wir haben gesehen, wie der wissenschaftlich abscheuliche George Will und seine Kollegen Argumente so hinbiegen können, dass sie richtig klingen, ohne dies zu sein. Aber verzerrte Darstellungen der Welt in den von Informationslieferanten produzierten Nachrichten haben auch noch allgemeinere Folgen. In Sachen Risiko und Wahrscheinlichkeit bevorzugt unser Gehirn nämlich tendenziell oberflächliche Indizien, die hauptsächlich von den von ihnen hervorgerufenen Emotionen oder ihrer leichten Vorstellbarkeit bestimmt werden. Neben diesem Risikowahrnehmungsproblem ist – schockierenderweise – wissenschaftlich ebenfalls erwiesen, dass sowohl Risikoidentifizierung als auch Risikovermeidung nicht im »denkenden« Teil des Gehirns ausgehandelt werden, sondern größtenteils im emotionalen (die »Risiko-als-Gefühl«-Theorie). Mit keineswegs banalen Konsequenzen: Rationales Denken hat somit nur ganz, ganz wenig mit Risikovermeidung zu tun. Die Rolle des rationalen Denkens scheint sich weitgehend darauf zu beschränken, unser Handeln mit einigen vernünftigen Argumenten zu erklären.
In dieser Hinsicht sind journalistische Beschreibungen sicher nicht einfach eine unrealistische Darstellung der Welt – sie täuschen uns vielmehr am meisten, indem sie über unsere Gefühle unsere Aufmerksamkeit wecken – durch Sensationalismus der billigsten Sorte. Nehmen wir beispielsweise die »Bedrohung« durch den Rinderwahnsinn: Nach mehr als zehn Jahren Medienrummel forderte er (den höchsten Schätzungen zufolge) lediglich ein paar hundert Opfer – im Gegensatz zu Autounfällen (mehrere hunderttausend!). Allerdings würde eine journalistische Beschreibung des letzteren Sachverhalts kommerziell nichts einbringen. Dieser Sensationalismus kann Mitleid für die falschen Ursachen erregen: Krebs und Unterernährung leiden hier wohl am meisten unter mangelnder Beachtung. Der Hunger in Afrika und Südostasien weckt keine emotionalen Reaktionen mehr – also verschwindet er buchstäblich von der Bildfläche. Hier ist die mentale Wahrscheinlichkeitskarte in unserem Gehirn so auf Sensationen fixiert, dass man Informationsgewinne erzielen würde, indem man auf die Nachrichten verzichtet. Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die Volatilität der Börse. In den Köpfen der Menschen sind niedrigere Kurse weitaus »volatiler« als steile Aufwärtsbewegungen. Zudem scheint sich die Volatilität nicht aus den tatsächlichen Bewegungen, sondern aus dem Tenor der Medien zu ergeben. Die Marktbewegungen in den 18 Monaten nach dem 11. September 2001 waren weitaus geringer als diejenigen, die wir in den vorausgehenden 18 Monaten erlebten, doch erschienen sie den Anlegern aus irgendeinem Grund äußerst volatil. Die Mediendiskussionen über »terroristische Bedrohungen« bauschten die Auswirkungen dieser Marktbewegungen in den Köpfen der Menschen auf. Das ist einer von vielen Gründe, warum der Journalismus die schlimmste Geißel unseres Zeitalters sein könnte – die Welt wird immer komplexer und unser Denken wird zu zunehmender Vereinfachung erzogen.
Sprichwörter im Überfluss
Hüten Sie sich davor, Richtigkeit und Verständlichkeit eines Arguments miteinander zu verwechseln. Teilweise favorisiert die konventionelle Weisheit Dinge, die sich kurz und bündig auf den Punkt bringen lassen – in vielen Kreisen wird dies als Gesetz betrachtet. Da ich eine französische Grundschule, ein so genanntes lycée primaire, besuchte, musste ich folgenden beliebten Spruch auswendig lernen:
Ce qui se conçoit bien s’énonce clairement.
Et les mots pour le dire viennent aisement.
Was
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