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Geschichte geschrieben wird. Wir meinen, dass beispielsweise 1929 die Menschen sich bewusst waren, dass sie mit dem Börsencrash ein Ereignis von historischer Tragweite erlebten und dass sie bei einer Wiederholung eines solchen Ereignisses die Zeichen der Zeit erkennen würden. Es wird uns vorgegaukelt, dass unser Leben einem Abenteuerfilm ähnelt, so dass wir bereits im Voraus wissen, dass etwas Bedeutendes geschehen wird. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Zeitzeugen geschichtlicher Ereignisse nicht wussten, wie bedeutend der betreffende Moment war. Irgendwie schlägt sich aber dieser Respekt, den wir für die Geschichte empfinden, nicht in unserer Behandlung der Gegenwart nieder.
Jean-Patrice aus dem vorherigen Kapitel wurde plötzlich durch einen interessanten Beamtentypen ersetzt, der noch niemals etwas mit Zufallsberufen zu tun gehabt hatte. Er hatte einfach nur die richtigen Staatsdienerschulen besucht, deren Absolventen Berichte schreiben lernen, und hatte irgendeine höherrangige Führungsposition im Institut inne. Wie bei subjektiv eingeschätzten Positionen üblich, versuchte er, seinen Vorgänger in ein schlechtes Licht zu rücken: Jean-Patrice sei schlampig und unprofessionell gewesen. Die erste Großtat des Beamten war eine formale Analyse unserer Transaktionen; er stellte fest, dass wir ein wenig zu viel Handel betrieben und sehr hohe Back-Office-Kosten auffuhren. Er analysierte einen Großteil unserer Devisenhandelsgeschäfte und schrieb dann in seinem Bericht, dass nur ein Prozent dieser Transaktionen signifikante Gewinne abwarf und der Rest Verluste oder kleine Gewinne einbrachte. Ihn schockierte es, dass die Händler nicht mehr Gewinn bringende und weniger verlustträchtige Deals abschlossen. Für ihn lag es auf der Hand, dass wir seine Anweisungen auf der Stelle zu befolgen hatten. Wenn wir die lukrativen Transaktionen einfach verdoppelten, könnten wir für das Institut ganz fantastische Ergebnisse einfahren. Wieso sei uns hoch bezahlten Händlern das nicht eher eingefallen?
Rückblickend erscheint immer alles offensichtlich. Der Beamte war ein sehr intelligenter Mensch, und sein Fehler ist weitaus verbreiteter, als man meint. Er resultiert aus der Art und Weise, wie unser Gehirn mit historischen Informationen umgeht. Die Vergangenheit wird im Nachhinein immer deterministisch wirken, weil nur eine einzige Observation stattfand. Unser Gehirn interpretiert die meisten Ereignisse nicht anhand der vorausgehenden, sondern auf Basis der nachfolgenden Entwicklungen. Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Prüfung und kennen die Antworten. Wir wissen zwar, dass sich die Geschichte vorwärts bewegt, doch fällt uns die Erkenntnis schwer, dass wir sie uns rückwärts vorstellen. Warum ist das so? Diesen Punkt werden wir in Kapitel 11 aufgreifen, doch sei an dieser Stelle eine mögliche Erklärung genannt: Unser Denken ist weniger für ein Verständnis der Welt ausgelegt, sondern soll uns rasch aus schwierigen Situationen heraushelfen und unsere Nachkommenschaft sichern. Wäre es für ein Verständnis der Dinge gemacht, dann hätten wir im Gehirn eine Maschine, die frühere Ereignisse wie ein Videorekorder mit richtiger Chronologie abspielt, und das würde uns so sehr verlangsamen, dass wir unseren Alltag nur schwerlich bewältigen könnten. Psychologen bezeichnen diese Überschätzung des Wissens beim Eintritt eines Ereignisses aufgrund späterer Informationen als Rückschaufehler (»Hindsight Bias«) bzw. »Ich-wusste-es-die-ganze-Zeit-über«-Effekt.
Nun nannte der Beamte die zu Verlusten führenden Transaktionen »grobe Fehler«, so wie Journalisten Entscheidungen, die einen Kandidaten seine Wahl kosteten, als »Schnitzer« bezeichnen. Ich werde diesen Punkt wiederholen, bis ich heiser bin: Ein Fehler wird nicht von Ereignissen nach dem Entscheidungszeitpunkt bestimmt, sondern anhand der bis dahin verfügbaren Informationen.
Ein übler Effekt dieser Rückschaufehler ist die Tatsache, dass jene, die sich in der Vorhersage der Vergangenheit als sehr gut erweisen, von ihrer Fähigkeit überzeugt sind, die Zukunft ebenso gut prognostizieren zu können. Daher lehren uns Ereignisse wie die des 11. September 2001 niemals, dass wir in einer Welt leben, in der wichtige Geschehnisse nicht absehbar sind – selbst der Einsturz der beiden Türme des World Trade Center scheint uns damals vorhersehbar gewesen zu sein.
Mein Solon
Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb ich besessen von Solons Warnung bin:
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