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wissenschaftlichen Standard, ohne ästhetische Maßstäbe dagegensetzen zu können. Die griechisch-orthodoxe Kirche beging zum Glück den Fehler, bei der Übersetzung einiger Gebete aus dem Kirchengriechischen in die Landessprache semitischen Ursprungs, die von Syrern griechischer Abstammung in der Region Antiocha (Südtürkei und Nordsyrien) gesprochen wurde, klassisches Arabisch zu wählen – eine hundertprozentig tote Sprache. Mein Volk hat daher das Glück, in einer Mischung aus totem Koiné (Kirchengriechisch) und nicht weniger totem Koran-Arabisch beten zu dürfen.
Was hat das mit einem Buch über den Zufall zu tun? Unsere menschliche Natur weckt in uns ein Bedürfnis nach péché mignon. Selbst die Ökonomen, die normalerweise abstruse Möglichkeiten finden, der Realität völlig zu entfliehen, begreifen allmählich, dass wir nicht vom berechnenden Buchhalter in uns motiviert werden. In den Einzelheiten unseres Alltags müssen wir nicht rational und wissenschaftlich denken – nur in jenen Situationen, in denen wir uns verletzen könnten und unser Überleben bedroht ist. Das moderne Leben scheint uns einzuladen, genau das Gegenteil zu tun: extrem realistisch und intellektuell zu werden, wenn es um Fragen der Religion und des persönlichen Verhaltens geht, aber so irrational wie möglich zu handeln, wenn vom Zufall regierte Fragen im Spiel sind (etwa bei Portfolio- oder Immobilienanlagen). Ich kenne Kollegen, so genannte »rational denkende«, nüchterne Menschen, die nicht verstehen können, warum ich die Gedichte Baudelaires und Saint-John Perse oder obskure (und häufig unergründliche) Schriftsteller wie Elias Canetti, J. L. Borges oder Walter Benjamin liebe. Dennoch lassen sie sich dazu hinreißen, »Analysen« eines »Gurus« im Fernsehen anzuhören oder Aktien einer Firma zu kaufen, über die sie rein gar nichts wissen, nur weil ihnen ihr Nachbar, der so dicke Autos fährt, einen Tipp gegeben hat. Der Wiener Kreis erklärte in seiner Kritik an der wortreichen Phrasenphilosophie à la Hegel, dass dies aus wissenschaftlicher Sicht reiner Unsinn und aus künstlerischer Perspektive der Musik unterlegen sei. Ich muss zugeben, dass ich es als weitaus angenehmer empfinde, regelmäßig Baudelaire zu lesen, als den Nachrichtensprechern von CNN oder George Will zuzuhören.
Ein jiddisches Sprichwort sagt: Wenn ich schon gezwungen bin, Schweinefleisch zu essen, sollte es von bester Qualität sein. Wenn ich mich vom Zufall zum Narren machen lasse, sollte es sich dabei tunlichst um eine schöne (und harmlose) Art der Täuschung handeln. Auf diesen Punkt werde ich in Teil III nochmals zurückkommen.
Kapitel 5
Überleben der Schwächsten – lässt sich die Evolution vom Zufall täuschen?
Ein Fallbeispiel für zwei seltene Ereignisse. Mehr zu seltenen Ereignissen und zur Evolution. Wie »Darwinismus« und Evolution außerhalb der Biologie missverstanden werden. Das Leben ist nicht kontinuierlich. Wie sich die Evolution vom Zufall an der Nase herumführen lässt. Eine Vorbereitung auf das Problem der Induktion.
Carlos, das Emerging-Market-Genie
Carlos traf ich früher bei unzähligen New Yorker Partys, auf denen er stets makellos gekleidet erschien, sich aber den Damen gegenüber ein wenig schüchtern verhielt. Ich pflegte ihn regelmäßig mit beruflichen Fragen zu bestürmen; er kaufte und verkaufte nämlich Emerging-Market-Bonds. Als freundlicher Gentleman beantworte er meine Fragen höflich, wirkte dabei aber stets angestrengt. Denn obwohl er die englische Sprache fließend beherrschte, schien sie ihm körperliche Anstrengung abzuverlangen, denn er musste seine Kopf- und Nackenmuskeln anspannen (manchen Menschen liegen Fremdsprachen nun einmal nicht im Blut). Was sind Emerging-Market-Bonds? Der Begriff »Emerging Markets« ist ein politisch korrekter Euphemismus für ein nicht besonders hoch entwickeltes Land (als Skeptiker vermittelt mir die wörtliche Übersetzung dieses Begriffs, nämlich »aufstrebende Märkte«, nicht unbedingt linguistische Sicherheit). Diese festverzinslichen Finanzinstrumente werden von den Regierungen dieser Schwellenländer – in erster Linie Russland, Mexiko, Brasilien, Argentinien und die Türkei – emittiert. Geht es diesen Regierungen nicht gut, werden diese Anleihen für wenige Cents gehandelt. In den frühen neunziger Jahren stürmten die Anleger plötzlich auf diese Märkte und weiteten die Grenzen dieser Kategorie immer mehr aus, indem sie zunehmend exotischere
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