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das als »Feuerwachen-Effekt«. Er hat beobachtet, wie Feuerwehrleute, wenn sie lange keine Einsätze fahren müssen und sich zu viel miteinander unterhalten, in vielen Dingen Meinungen teilen, die ein externer, objektiver Beobachter absurd fände (sie alle übernehmen allmählich sehr ähnliche politische Einstellungen). Psychologen haben dafür wohl eine hochgestochene Bezeichnung geprägt, aber mein Freund Marty hat kein Studium in Verhaltenswissenschaften absolviert.
Auch die begriffsstutzigen Vertreter des Internationalen Währungsfonds (IWF) hatten sich von der russischen Regierung einwickeln lassen, die sich auf ihre Kosten bereicherte. Bedenken Sie, dass Volkswirtschaftler daran gemessen werden, wie intelligent sie klingen, nicht an einem wissenschaftlichen Maßstab, der ihre Kenntnis der realen Situation testet. Die Anleihenkurse ließen sich aber nicht täuschen. Sie wussten mehr als die Ökonomen, mehr als Carlos und seine Kollegen in den Emerging-Market-Abteilungen.
Louie, ein erfahrener Händler am Nachbartisch, der sich von diesen reichen Emerging-Market-Tradern einiges gefallen lassen musste, konnte miterleben, wie seine Ehre wiederhergestellt wurde. Der in Brooklyn geborene und aufgewachsene Händler war damals 52 Jahre alt und hatte in mehr als dreißig Jahren jeden Marktzyklus überlebt, den man sich vorstellen kann. Ruhig sah Louie zu, wie ein Mann vom Sicherheitsdienst Carlos wie einen gefangenen Soldaten zu Tür eskortierte. Er murmelte vor sich hin: »Volkswirtschaft ist reiner Quatsch. Marktdynamik ist alles.«
Carlos arbeitet heute nicht mehr an der Börse. Ob ihm die Geschichte (eines schönen Tages) nicht doch Recht geben könnte, hat nichts damit zu tun, dass er ein schlechter Händler ist. Er besitzt alle typischen Eigenschaften eines tiefsinnigen Gentleman und wäre ein idealer Schwiegersohn. Aber er hat auch die meisten Merkmale eines schlechten Börsenhändlers. Oft erweisen sich die reichsten Händler irgendwann auch als die schlechtesten. Ich bezeichne das als Querschnittsproblem: Zu jedem beliebigen Zeitpunkt sind die erfolgreichsten Händler jene, die wohl am besten zum jüngsten Zyklus passen. Bei Zahnärzten und Pianisten ist das nicht allzu oft der Fall – weil diese Berufe zufallsresistenter sind.
John, der High-Yield-Händler
Neros Nachbarn John haben wir im ersten Kapitel kennen gelernt. Im Alter von 35 Jahren hatte er sieben Jahre lang – seit seinem Abschluss an der Pace Graduate Business School – an der Wall Street mit hochverzinslichen Unternehmensanleihen gehandelt. Er stieg in Rekordzeit zum Leiter eines Teams von zehn Händlern auf – dank eines Wechsels zwischen zwei ähnlichen Wall-Street-Firmen, der ihm einen großzügigen Gewinnbeteiligungsvertrag einbrachte. Nach dieser Vereinbarung konnten ihm am Ende eines Kalenderjahres 20 Prozent des Jahresgewinns ausbezahlt werden, den er erwirtschaftet hatte. Darüber hinaus durfte er sein eigenes Geld in seine Transaktionen investieren – ein großes Privileg.
John ist kein Mensch, den man auf Anhieb als intelligent bezeichnen würde, aber es wurde allgemein angenommen, dass er einen guten Geschäftssinn besaß. Er wurde als »pragmatisch« und »professionell« eingeschätzt. Er erweckte den Anschein, als sei er ein geborener Geschäftsmann, und sagte niemals etwas, das im Geringsten ungewöhnlich oder unpassend war. Unter nahezu allen Umständen blieb er ruhig und zeigte nur selten irgendwelche Gefühle. Selbst sein gelegentliches Fluchen (wir sprechen hier schließlich von der Wall Street!) passte so gut in den Kontext, dass es fast schon wieder professionell klang.
John kleidete sich tadellos. Das war teilweise auf seine monatlichen Stippvisiten in London zurückzuführen, wo seine Abteilung eine Dependance hatte, die sich um die europäischen High-Yield-Aktivitäten kümmerte. Er trugt maßgeschneiderte dunkle Businessanzüge mit Ferragamo-Krawatten – elegant genug, um den Eindruck zu vermitteln, als sei er das Paradebeispiel eines erfolgreichen Wall-Street-Profis. Jedesmal, wenn Nero ihn traf, fühlte er sich hinterher schäbig gekleidet.
Johns Desk beschäftigte sich primär mit Transaktionen im so genannten »High-Yield-Handel«. Das Ziel dieser Aktivitäten bestand darin, »billige« Anleihen zu kaufen, die eine Rendite von beispielsweise 10 Prozent abwarfen, wenn der Refinanzierungszins seines Instituts bei 5,5 Prozent lag. Unter dem Strich brachte das einen Ertrag von 4,5 Prozent, auch
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