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nächsten seltenen Ereignis. Solon scheint das verstanden zu haben. Versuchen Sie aber mal, dieses Problem einem naiven Wirtschaftsdarwinisten zu erklären – oder Ihrem reichen Nachbarn auf der anderen Straßenseite.
Kapitel 6
Schiefe und Asymmetrie
Wir führen das Konzept der Schiefe ein: warum die Begriffe »Bullen« und »Bären« Außerhalb der Zoologie nur begrenzte Aussagekraft besitzen. Ein unartiges Kind zerstört die Struktur des Zufalls. Eine Einführung in das Problem der epistemischen Undurchsichtigkeit. Der vorletzte Schritt vor dem Problem der Induktion.
Der Mittelwert ist nicht der Maßstab
Bei dem Essayisten und Wissenschaftler Steven Jay Gould (den ich eine Zeit lang als mein Rollenvorbild auserkoren hatte) wurde in seinem fünften Lebensjahrzehnt einmal eine tödliche Form von Magenschleimhautkrebs diagnostiziert. Als Erstes eröffnete man ihm in Bezug auf seine Prognose, dass die mittlere Überlebensdauer bei dieser Erkrankung bei ungefähr acht Monaten lag – eine Aussage, die seiner Meinung nach der Aufforderung des Propheten Jesaja an König Hesekia ähnelte, er möge sich auf seinen Tod vorbereiten und sein Haus in Ordnung bringen.
Eine medizinische Diagnose – insbesondere eine so gravierende – kann nun aber Menschen zu gründlichen Recherchen motivieren, insbesondere so produktive Autoren wie Gould, die noch etwas mehr Zeit auf unserem Planeten verbringen möchten, um noch ein paar Buchprojekte abschließen zu können. Goulds weitere Nachforschungen ergaben ein ganz anderes Bild als die ihm ursprünglich mitgeteilten Informationen. Vor allem zeigten sie, dass die erwartete (also die durchschnittliche) Überlebensdauer sehr viel länger als acht Monate betrug. Ihm fiel auf, dass der erwartete und der mittlere Wert keineswegs gleich waren. Der Mittelwert sagt mehr oder weniger aus, dass 50 Prozent aller Patienten innerhalb von acht Monaten sterben und 50 Prozent länger als acht Monate überleben. Wer aber überlebte, konnte in der Regel ein Leben wie jeder andere führen – also mit dem Durchschnittswert von vielleicht 73,4 Jahren, der in den Sterblichkeitstabellen der Versicherungen vorhergesagt wird.
Das Bild ist asymmetrisch. Patienten sterben entweder sehr früh oder überleben sehr lange. Bei asymmetrischen Ergebnissen entspricht die durchschnittliche Überlebenszeit niemals der mittleren Überlebenszeit. Dies veranlasste Gould, der so das Konzept der Schiefe (»skewness«) auf die harte Tour verstand, zu leidenschaftlichen Ausführungen unter der Überschrift »The Median is Not the Message« (Der Mittelwert ist nicht der Maßstab). Darin betonte er, dass der in der medizinischen Forschung verwendete mittlere Wert nichts mit einer Wahrscheinlichkeitsverteilung zu tun habe.
Ich werde Goulds Argumentation vereinfachen, indem ich das arithmetische Mittel (auch Durchschnitt oder arithmetischer Mittelwert genannt) einführe. Dazu verwende ich ein etwas weniger morbides Beispiel, nämlich das Glücksspiel. Zur Verdeutlichung dieses Punktes werde ich sowohl asymmetrische Gewinnchancen als auch asymmetrische Ergebnisse beschreiben. Wenn Gewinnchancen asymmetrisch sind, bedeutet dies, dass die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Ereignisse nicht 50 Prozent sind, sondern dass ein Ereignis eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit hat als das andere. Sind dagegen Ergebnisse asymmetrisch, unterscheiden sie sich in ihren jeweiligen Auszahlungsbeträgen.
Nehmen wir an, ich wette bei einem Spiel, bei dem die Chance, einen Dollar zu gewinnen, bei 999 zu 1000 liegt (Ereignis A) und die Chance, 10 000 Dollar zu verlieren, 1 zu 1000 beträgt (Ereignis B). Das ist in Tabelle 3 dargestellt.
Tabelle 3
Meine Erwartung liegt bei einem Verlust von ungefähr 9 Dollar (errechnet durch Multiplizieren der Wahrscheinlichkeiten mit den entsprechenden Ergebnissen). Dabei ist die Häufigkeit beziehungsweise Wahrscheinlichkeit des Verlustes als solches völlig irrelevant; sie muss an der Dimension des Ergebnisses gemessen werden. In diesem Fall ist A weitaus wahrscheinlicher als B. Wenn wir auf Ereignis A setzen, ist unsere Gewinnchance also höher, aber dennoch wäre dies keine gute Strategie.
Dieser Punkt ist relativ weit verbreitet und einfach; ihn versteht jeder, der eine einfache Wette abschließt. Dennoch musste ich mein Leben lang auf den Finanzmärkten mit Menschen streiten, die das anscheinend nicht begreifen können. Ich spreche hier nicht von den Neulingen, sondern von Menschen mit
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