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Blanca kann nicht ohne Sam, das war von Anfang an klar. Sam hat ihr Grace ersetzt. Die Tochter verloren, die Enkelin mit Beschlag belegt, denkt Victoria gehässig. Wo sie selbst, Victoria, blieb, war allen mehr oder wenig gleichgültig. Die Eltern haben immer genommen, was sie für sich beanspruchten. Genau wie Grace.
Victoria steht auf und tritt ans Fenster. Es nieselt draußen. Sie öffnet die Terrassentür und tritt hinaus. Tief atmet sie die milde Nachtluft ein. Doch die Frische bringt ihr keine Erleichterung. Sie trinkt den Gin wie Limonade. Sie braucht dieses leise Säuseln im Kopf, die Entspannung, die sich gleich einstellen wird, das Gefühl, dass wohl alles nicht so schlimm sein wird.
Allerdings stellt sich die Entspannung heute nicht ein. Jedenfalls noch nicht, denkt sie höhnisch.
Warum ist Robert noch nicht zurück?
Hat am Ende er …?
Nein, Robert war immer loyal. Robert hat an allen entsetzlichen Wendepunkten wie ein Fels zu ihr gestanden. Victoria glaubt, irgendwo im Haus ein Geräusch zu hören. Sie fährt herum, sieht ihr eigenes Spiegelbild im Glas der Terrassentür.
Die Schnitte in ihrem Gesicht sind fast verheilt. Sie ist barfuß, trägt Chinos in Khaki und eine weiße Bluse. Sie ist so mager, dass die Hose rutscht, trotz des Gürtels. Victoria amüsiert sich darüber. Sie war immer die Dünne. Grace die Dicke. Vater sagte: Grace ist rund, nicht dick.
Nein, Grace war nie wirklich dick, sie war weiblich, weich, knuffig. Die Körperkraft, die sie ausstrahlte, gab ihr eher den Anschein, sportlich zu sein, stark, ausdauernd, widerstandsfähig. Während Victorias schlanke Figur eher elegant aussah als gesund.
Warum taucht John Carrick nach 30 Jahren in Coburg auf?, fragt sich Victoria. Ein kühler Wind kommt auf. Sie geht ins Haus und schließt die Terrassentür. Trinkt ihren Drink aus. Die Eiswürfel klirren vorwurfsvoll. Sie mixt einen neuen Gin Tonic. Wittert eine Verschwörung. Ganz klar, so muss es sein. Die Ausstellung, die in zwei Wochen beginnt, wurde groß in der Presse angekündigt, sie hatte ein paar Interviews in Magazinen, die in der Branche durchaus beachtet werden. Nun gut, es waren keine seitenlangen Beiträge, eher luftige Spalten, zwischen die großen Artikel gestreut. Egal. Die Ausstellung zu Victoria Mays 60. Geburtstag ist im Gespräch. Sie lacht laut. Es klingt kratzig. Sie erschrickt, denn das Geräusch scheint sich im ganzen Haus fortzusetzen.
Es gibt ein paar Leute, denen sie die Schau gestohlen hat im Lauf ihrer Karriere. Für die sich Victoria nicht ins Zeug gelegt hat, wenngleich sie es gekonnt hätte. Diese Leute nehmen ihr ihren Egoismus übel. Obgleich sie selbst niemals anders gehandelt hätten. Die Kunst ist eine einzige Heuchelei, denkt Victoria. Zorn erfüllt sie. Angeblich hat John Carrick die ganze aufgewärmte Geschichte mit Grace aus einem Blog im Internet. Victoria hat wie verrückt danach gesucht, nächtelang gesurft, aber nichts gefunden. Dieser Roman soll ja alles aus dem Netz gelöscht haben. Roman Hallstein! Könnte der nicht ein Erfüllungsgehilfe ihrer Tochter sein?
Im Dämmer des Alkohols, der in ihrem Hirn aufzieht, scheint ihr diese Erklärung so logisch wie sonst nichts. Sam will herausfinden, was damals war. Aber sie wird, sie darf es nicht herausfinden. Andernfalls wird alles zusammenbrechen. Die Familie ist alles, was Victoria hat. Ohne die Mays wäre sie schlicht eine weitere Scharteke aus dem Milieu der alternden Künstlerdiven. Nur vor dem Hintergrund ihrer Familie ist sie die erfolgreiche Victoria May. Victoria stürzt den Gin hinunter. Das Wohnzimmer dreht sich um sie.
Wo ist Robert? Er hat Sam hoffentlich zur Vernunft gebracht. Victorias Mund ist pelzig. Sie sehnt sich nach frischer Luft, am besten macht sie gleich einen Spaziergang hinunter ins Stadtzentrum.
Sam kann das alles nicht verstehen. Nie kann sie alle Mosaiksteinchen sammeln und richtig zusammensetzen. Vollkommen unmöglich. Am Ende glaubt sie sogar, dass Robert …
»Schluss!«, ruft Victoria streng in die Stille des Hauses. Sie geht in die Diele, greift nach ihrem Trench und schlüpft in das neue Paar Keilstiefeletten, die sie sich vor zwei Tagen im Schuhgeschäft am Markt gekauft hat. Sie verabscheut flache Schuhe.
Energisch zieht sie die Tür hinter sich zu und schreitet den Glockenberg hinunter.
Erst als sie an der Ehrenburg vorbei Richtung Markt geht, fällt ihr ein, dass sie gar nicht weiß, wo Robert und Sam sich treffen wollten. Bei Sam zu Hause?
Victoria
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