B00DJ0I366 EBOK
lacht leise. Sie hat wohl tatsächlich zu viel Alkohol erwischt. Gewöhnlich macht sie nach drei Gläsern Schluss.
Sie ändert die Richtung und geht zur Morizkirche. Es ist dunkel in der Stadt. Der Regen hat aufgehört. Sie legt den Kopf in den Nacken, sucht den Himmel nach Sternen ab. Da und dort entdeckt sie ein Loch in der Wolkendecke. Sie wünscht, sie könnte ein riesiges Teleskop hindurchstecken, um mit einem Blick die ganze Welt zu umfassen. Alles sehen und alles verstehen.
Vor Sams Wohnung hält sie an. Ihr Blick sucht Sams Fenster. Dahinter ist alles dunkel.
Sie hat den Schlüssel. Aber natürlich jetzt nicht dabei! Schön dumm. Sie hat doch den Flieder gebracht, sie hat das Foto mitgehen lassen, auf den Trichter ist die gescheite Sam natürlich nicht gekommen.
Victoria macht kehrt und lässt sich treiben, schlendert durch die dunklen Gassen zum Marktplatz. Ihr Kopf dröhnt, ein stechender Geschmack quält sie. Sie hat Durst. Sie könnte etwas trinken gehen. Ein Glas Wein. Danach einen Espresso. Und dann wird sie heimgehen, sich hinlegen oder ein Schaumbad nehmen.
Sie kommt am Miles and More vorbei, doch das Lokal ist proppenvoll. Sie geht ganz in Gedanken weiter, bis sie schließlich vor der Künstlerklause steht und die Tür aufstößt. Sie mag die Kneipe. Hier herrscht eine Atmosphäre, wie sie kreative Typen hinterlassen. Theaterleute, Studenten, Künstler.
Victoria steuert einen kleinen Tisch am hinteren Ende an. Dabei wirft sie einen Blick in den Nebenraum. Und erstarrt.
Da sitzt Robert. Neben ihm eine Blondine.
Das kann nicht sein.
Er hat den Arm um die Blondine gelegt. Sie trinken Wein. Die Blondine greift in ein Schüsselchen mit Nüssen und füttert Robert damit. Wie vulgär!
Victoria steht schwankend da. Sie fühlt die neugierigen Blicke der anderen Gäste nicht auf sich, achtet nicht auf die freundliche Nachfrage des Kellners, ob er ihr helfen könne.
Also hat Grace an jenem verdammten Schicksalstag vermutlich doch recht gehabt.
»Grace?«, flüstert Victoria, als könnte sie ganz nonchalant mit ihrer toten Schwester an die tausend Nickligkeiten, an all das Hickhack und die Rivalitäten anknüpfen, die vor Jahren auf einer Klippe auf dem Peloponnes unterbrochen wurden. Als wäre das nichts, so ein Sturz aus 30 Metern Höhe. Als wäre das nichts, wenn eine Leiche nie gefunden wird. Wenn man allein nach Hause reist.
Robert sitzt hier mit einer Blondine. Grace hat die Wahrheit gesagt.
Und Robert hat gelogen.
Victorias Beine geben nach. Grace hat es sich echt leicht gemacht, denkt sie. Einfach so über die Klippe zu stürzen. Typisch.
53
Sam freut sich beinahe ein bisschen. Sie hat Roman tatsächlich vermisst. Sollte ich ihn wirklich so abstrafen, nur wegen meiner seltsamen Familie?, fragt sie sich.
Da kommt der Mann, der zwischen den parkenden Wagen auf sie gewartet hat, näher, und sie sieht, dass er gar nicht Roman ist.
Ihr Herz, das eben noch freudig gepocht hat, beschleunigt nun. Flucht ist der erste Instinkt. Es ist spät, die Gasse ist leer, wenige Fenster sind beleuchtet. Die Morizkirche wirft tiefe Schatten.
»Guten Abend, Frau May.«
Die Stimme ist angenehm. Kommt sie ihr nicht sogar ein klein wenig bekannt vor?
Der Mann trägt Jeans, eine Softshelljacke und eine Kuriertasche quer über der Schulter. Um den Hals hat er einen Schal mit Fransen.
»Ich bin Hendrik Rosen. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«
»Ich glaube nicht.« Sam dreht den Schlüssel im Schloss. Sie könnte bei den Nachbarn klingeln und um Hilfe rufen. Sie könnte auf alle Klingelknöpfe gleichzeitig drücken. Die Hand gar nicht mehr wegnehmen. Das ganze Haus rebellisch machen.
»Ich schreibe für ›Artes‹. Sie kennen das Magazin?«
»Und Sie legen gern ein paar Nachtschichten ein?«
Er lacht leise. Macht ein paar Schritte nach vorn. Die Straßenlaterne scheint ihm ins Gesicht. Sein Haar ist ganz blond.
»Nun, ich bin eine Nachteule, das gebe ich zu. Um diese Zeit fängt es für mich erst richtig an.«
»Dann viel Spaß!« Sam stößt die Tür auf, tritt ins Haus. In dem Moment steht er neben ihr. Sein kräftiger Arm hält die Haustür geöffnet.
»Wenn ich Sie auf einen Drink einlade, sagen Sie dann auch Nein?«
»Was wollen Sie von mir?«
»Die Ausstellung, die Sie für Ihre Mutter organisieren. Ich habe die Webseite gesehen. Das ist alles ausgesprochen interessant.«
Sams Fluchtinstinkt erlahmt. Sie ist müde von dem langen Tag, den Selbstvorwürfen, die durch das Gespräch mit
Weitere Kostenlose Bücher