B00DJ0I366 EBOK
Robert wieder hochgekommen sind. Sie merkt, dass sie zu viel verdrängt hat, die lange Pause vom Grübeln zwar oberflächlich erholsam war, aber dass all die bohrenden Fragen nun umso brutaler zuschlagen. Vielleicht hört sie dem Mann deshalb zu. Und weil sie von so vielen Menschen, die sie liebt, belogen worden ist, dass es zur Abwechslung tatsächlich möglich wäre, dass ein Unbekannter ihr etwas Wahres berichtet.
»Interviews gebe ich morgens zwischen acht und neun. Schlechte Zeit für Sie«, zischt Sam.
Er lacht. Es klingt wie das Gurren eines großen, plumpen Vogels.
»Gehen wir was trinken?«
»Okay.«
Sie landen im Maccaroni, das ist nicht weit und hier tummeln sich am Wochenende spät abends noch zig Gäste.
Hendrik Rosen bestellt ein Weizenbier, Sam einen Wein. Sie beobachtet seine distinguierten Bewegungen, mit denen er ein Aufnahmegerät, ein Notizbuch und einen schicken Drehbleistift auf den Tisch legt. Das kleine rote Licht an dem Diktafon leuchtet.
Sie legt die Hand drüber. Rosen nimmt ihre Hand und bewegt sie weg. Legt sie auf der Tischplatte ab. Ohne etwas zu sagen.
Sam schüttelt seine Hand ab. Sie nimmt das Diktafon und steckt es in ihre Handtasche. »Ein paar Dinge laufen nach meinen Spielregeln.«
Er lächelt amüsiert.
»Ich habe kürzlich einen Artikel über Eleni Tsiadis geschrieben«, beginnt er. »Sehr spannende Recherchearbeit. Eine hochinteressante Frau. Voller Geheimnisse.«
Die du natürlich ergründen musst, Mister Superschlau, denkt Sam. Ihre Wangen werden heiß.
»Und kurz nachdem ich den Artikel fertig hatte, der in ›Artes‹ erschien«, macht Rosen weiter, »stieß ich auf die Webseite des Coburger Kongresshauses und von dort auf die Informationen zur Ausstellung Ihrer Mutter. Ich muss sagen, dass ich Victoria Mays Kunst liebe. Mehr als die von Eleni. Ihre Mutter malt positiver, stärker. Wahrscheinlich liegt das an ihrer Neigung zum Konkreten, die Eleni mittlerweile vollkommen abgeht.«
Sam nimmt einen Schluck Wein. Sie lässt ihn schwatzen. Er ist geschickt, wie eine Spinne, die das Beutetier im Netz umkreist, bis sie zum Todesstoß ansetzt. Selbstredend ist Sam längst klar, dass dieser Journalist es herausgefunden hat: Victorias Bilder fußen auf anderen Ideen. Auf den Ideen ihrer Schwester. Er erzählt auf Umwegen. Lullt Sam ein. Sie sollte gehen. Aber das kommt nicht in Frage. Sie muss wissen, ob er es weiß. Hat John Carrick diesem smarten Knaben einen Wink gegeben? Sam strafft die Schultern.
Ihrem Gegenüber entgeht die kleine Geste nicht. Er unterbricht seinen Redeschwall kurz, beugt sich vor und fragt:
»Sie wussten es, oder?«
Sam weiß nicht, was genau er meint, und sie spürt, dass diese Unbestimmtheit seine Gesprächstechnik ist. Er geht davon aus, dass sie selbst das Gespräch in die Richtung lenkt, wo er sie haben will. Sie soll sich quasi selbst kompromittieren. Mitsamt ihrer Mutter. Die Ausstellung ist gestorben. Weiß er von Grace?
Ein junger Mann in einem blauen Anzug, blond. Mit ausrasiertem Nacken. So hat ihre Nachbarin den Mann beschrieben, der den Umschlag brachte. Nun gut, heute trägt der Typ einen Schal, Haare wachsen ohnehin schnell nach und Kleidung kann man wechseln. Sam muss unwillkürlich schmunzeln.
Ein Journalist von ›Artes‹ wollte sie dort haben, in Venedig. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass Rosen ihre Entspannung fühlt. Das hat er nicht geplant. Er will sie in die Enge treiben, den Stress verstärken, bis sie irgendwann nur noch froh ist, die Wahrheit sagen zu dürfen. Na warte!
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mich bei Ihnen für die Einladung bedanke.«
Er zuckt zurück.
»Nach Venedig. Denn die stammte von Ihnen.« Sie stellt keine Frage, wirft stattdessen eine Feststellung in den Raum und lässt ihm keine Zeit, zu reagieren. Er muss seine Strategie in Windeseile umstellen.
»Eleni Tsiadis«, macht Sam weiter. »Es war eine Offenbarung, ihre Kunst zu sehen, vor allem an einem so romantischen Ort.«
Hendrik Rosen räuspert sich. »Ich …«
»Ihr Magazin klammert sich üblicherweise an die Größen, die in Mailand sitzen, in Paris, in London. So wie Eleni Tsiadis. Wer interessiert sich schon für eine Künstlerin aus dem Fränkischen? Aus Coburg?« Sie lacht. »Sehen Sie sich um. Wäre es nicht Samstagabend, hätte man die Gehsteige längst hochgeklappt. So ist es hier eben. Geruhsam. Nichts für einen Reporter von ›Artes‹.«
»Hören Sie …«
»Victoria May ist eine sehr schlichte
Weitere Kostenlose Bücher