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etwas zu klären ist, könnt ihr Nikolaj anrufen.«
Victoria starrt Sam so verblüfft an, dass diese fast lachen muss. Ihre Mutter hat noch nie erlebt, dass Sam sich entzogen hat.
»Gute Nacht.«
»Warte«, ruft Robert ihr nach.
»Was ist?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein … hat sich erledigt.«
Sam zieht die Haustür hinter sich zu. Als sie zu Romans Wagen tritt, sieht sie, dass er die Sitzlehne zurückgestellt hat und selig schlummert. Zuerst will sie ans Fenster klopfen, dann öffnet sie so leise wie möglich den Kofferraum. Sie nimmt ihre Reisetasche aus dem Auto und macht sich auf den Weg zu ihrer Wohnung in der Pfarrgasse.
51
Es tut Sam gut, die vertrauten Handgriffe auszuführen. Jeden Morgen um zehn kommt sie zu Luna ins Atelier. Sie frühstücken zusammen, bevor sie mit der Arbeit beginnen. Abmessen, zuschneiden, heften. Ich beherrsche das Handwerk noch, denkt Sam zufrieden. Ihr ist nicht ganz klar, wie sie überhaupt daran zweifeln konnte. Das Nähen verlernt man nicht. Sie hat sich immer gern mit Stoffen beschäftigt, hat nachgespürt, wie weich, haarig, flauschig oder rau sich das Material anfühlt. Es gibt tausend und mehr Beschaffenheiten. Ihre Tätigkeit ist mechanisch, sie übernimmt Lunas Schnitte, arbeitet sie aus, bespricht mit der Freundin Details. Sie muss nichts erzeugen, nicht kreativ sein, nichts aus sich herauspressen. Die Quälerei, ständig Neues liefern, auf Abruf originell sein zu müssen, ist sie fürs Erste los. Das verschafft ihr innere Freiheit.
Am ersten Tag nach dem großen Streit hat sie Luna gebeten, ihre Sachen bei Blanca abzuholen. Luna sieht seitdem jeden Abend nach der alten Dame. Roman versucht mehrmals täglich, Sam zu erreichen. Sie lässt das Handy klingeln und ruft nicht zurück. Victorias Verdächtigungen haben sich ihr übergestülpt. Die alte Angst, dass man sie nur interessant findet, weil sie eine prominente Mutter und eine außergewöhnliche Geschichte zu bieten hat, erstickt den Mut, den sie in Venedig gefasst hat. Mut, an eine Beziehung zu Roman zu glauben. Eine Beziehung, die irgendwo im Hintergrund wartet, vielleicht.
Viel lieber beschäftigt sich Sam mit Schnitten und Stoffen. Blanca fehlt ihr, aber sie braucht Freiraum und Zeit, um alles, was geschehen ist, überhaupt erst zu begreifen. Jede einzelne Tätigkeit, die sie in Lunas Atelier ausführt, erdet sie, gibt ihr das Gefühl, auf vertrautem Terrain zu sein, wo sie nicht scheitern kann. Wo ein Fehler nicht gleich das große Ganze vernichtet, sondern ausgebessert werden kann. Notfalls, indem Sam noch einmal von vorne anfängt. Ein Ausweg, den es im Leben außerhalb des Ateliers nicht gibt.
Für die Ausstellung macht sie wenig mehr als das Notwendigste. Sie stellt ein paar Bilddateien und Texte zusammen, aus denen ein Flyer werden soll. Die Dateien mailt sie an Nikolaj mit der Bitte, sich um die Drucklegung zu kümmern. Nebenbei lässt sie einfließen, dass sie wieder in ihrer Wohnung wohnt und Blanca alleine ist. Ansonsten ignoriert sie die Anrufe ihrer Eltern.
Bis Robert eines Abends, als sie sich von Luna aus auf den Heimweg macht, vor dem großen Backsteingebäude auf seine Tochter wartet.
»Hallo, Sam!«
»Dad!« Erschrocken weicht Sam aus. Es hat geregnet, sie rutscht auf dem nassen Asphalt. Robert streckt eine Hand aus, um sie festzuhalten. Sie greift danach, es ist ein Reflex.
Roberts Hand ist rau und warm. So, wie sie sie kennt. Eine Stütze, ein Halt. Einer, der immer da war, solange Sam denken kann.
Unsere Hände sehen sich ähnlich, denkt Sam plötzlich. Die runde Form der Nägel, der Zeigefinger, der an beiden Händen deutlich länger ist als der Ringfinger.
»Ich bin nicht als Rächer gekommen oder so«, lacht Robert verlegen. »Falls du das fürchtest.«
»Ich … nein.«
»Hast du Zeit auf ein Glas Wein irgendwo?«
»Na gut.« In Sams Magen grummelt es, sie will nicht, aber er ist ihr Vater. Sie kann ihn nicht auf der Straße stehen lassen, das kommt einfach nicht in Frage.
Schweigend gehen sie in die Innenstadt. In der Künstlerklause suchen sie sich einen kleinen Tisch, bestellen zwei Silvaner.
»Was gibt es?«, fragt Sam.
»Die Polizei hat ihre Ermittlungen eingestellt. John Carrick ist an einem Herzinfarkt gestorben. Aus heiterem Himmel. Ein schöner Tod für ihn.«
»Hat die Polizei etwa gegen Mutter ermittelt?«
Robert seufzt. Er schiebt sein Weinglas hin und her. »Nicht direkt, aber man hat natürlich ein ungutes Gefühl, wenn die Polizei einem im Nacken
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