B00DJ0I366 EBOK
sitzt. Ungeklärter Todesfall … da wird der Staatsanwalt eingeschaltet.«
»Verständlich, dass ihr Nervenflattern hattet.«
»Sam, warum bist du so hart?«
Sam betrachtet ihre Finger. Sie sehnt sich zurück ins Atelier, wo sie etwas schaffen kann, Ergebnisse sieht. Wo Resultate erklärbar sind. Krumme Nähte, falsch gesetzte Abnäher, ausgefranste Kordeln. Alles leicht zu handhaben. Man macht sich auf die Suche nach der Ursache. Zur Not trennt man auf. Fertig.
»Luna und ich wollen unsere Musterklamotten bald abschicken. Sobald das Okay von den Kunden kommt, wird gefertigt.«
»Das klingt gut.« Robert nickt ihr aufmunternd zu. »Weißt du, was ich glaube? Dass du sehr viel mehr Kauffrau bist als Künstlerin. Kann das sein?«
Sam zuckt die Schultern. Der gleiche Gedanke kam ihr erst gestern. Sie hat zu sehr auf ihre Kreativität gesetzt, andere Stärken übersehen. »Weiß nicht.«
»Victoria würde gern mit dir sprechen.«
»Also hat sie dich vorgeschickt?«
Roberts Gesicht verdunkelt sich, als wollte er eine harsche Antwort geben, doch dann lacht er auf, fast erleichtert. »Ja. Hat sie.«
Sie sehen einander an und lächeln. Sam merkt, dass sie seit dem Streit im Haus ihrer Eltern, seit der Reise nach Venedig, nicht mehr gelächelt hat. Geschweige denn gelacht. Sie war nicht permanent zornig oder traurig. Sie befand sich vielmehr in einer Zwischenwelt, in der sie versuchte, möglichst nichts an sich heranzulassen.
»John Carricks Leiche ist nach Italien überführt worden. Er will in der Lombardei beerdigt werden. Das war sein Wunsch. Irgendwelche Verwandte, die sich um die ganze Sache kümmern können, gibt es wohl nicht.«
»Traurig.« Sam denkt, dass John Carricks sterbliche Überreste damit wenigstens in Ruhe gelassen werden und dass es keine Zwangstradition gibt, die wöchentliche Friedhofsgänge festschreibt.
»Willst du etwas essen?«, fragt Robert.
»Habe keinen Appetit. Wie geht’s Blanca?«
»Du fehlst ihr.«
Die Antwort jagt eine Welle der Freude durch Sam. Sie schämt sich, weil sie mit Blancas Liebe pokert. Das Schlimmste ist: Sie weiß überhaupt nicht, weshalb sie sich so verhält. Warum sie alle abwimmelt, die sie liebt. Vor allem Blanca. Aber da ist so eine Sicherheit in ihr, die ihr sagt, dass sie nicht weitermachen kann wie bisher. Von allen Optionen, die sie hat, wäre Stagnation genau die schlechteste. Sie muss die bekannten Geleise der Angepasstheit verlassen, sonst wird sie verrückt. Schlimm genug, wenn ihre Abgrenzung auch Roman ausschließt. Dennoch: Allein wegen Roman wird Sam nicht einknicken.
»Ich kann so nicht weitermachen, Dad«, sagt Sam schließlich. Sie nippt an ihrem Wein.
Er legt eine Hand auf ihre. »Wir haben es dir nie leicht gemacht.«
Seltsam, diese plötzliche Läuterung, denkt Sam.
»Du machst es dir auch selbst nicht leicht, Sam.«
»Unsere Sippe ist ziemlich speziell, was?«
Robert lacht. »Kann man so sagen.«
»Ich will Klarheit, Dad. Ich bin bereit, mich neu auf euch alle einzulassen. Dazu muss ich die Wahrheit wissen. Darum geht es mir.«
»Du weißt doch inzwischen von Grace.«
Ein ungläubiges Fauchen entfährt Sams Kehle. »Sehr witzig. Wollt ihr mir wirklich weismachen, dass ihr mir alles erzählt habt? Come on! Die eigene Tochter, die Schwester, die Schwägerin totzuschweigen, das tut man nicht so einfach. Wegen ein paar Kunstwerken, die man nachmachen kann. Da steckt doch was anderes dahinter. Mutter ist nicht dumm. Im Gegenteil: Ihr Verstand schneidet messerscharf, und sie hat sich etwas dabei gedacht und euch dazu gebracht, bei ihrem Spiel mitzuspielen. Nach ihren Regeln. Und seitdem geht es immer nach ihren Regeln. Egal worum es sich handelt!«
Robert wird blass. Sam bemerkt, dass sie ganz nah am wunden Punkt ist.
»Sie hatte …«, fängt ihr Vater an.
»Augenblick!« Sam wird laut. Sie hebt die Hand. »Sie hatte eine schreckliche Kindheit im Schatten ihrer Schwester. Sie kam mit dem Vater nicht klar. Wer sagt eigentlich, dass Grace klarkam? Womöglich war ihr die übermäßige Liebe ihres Vaters gar nicht recht. So es überhaupt Liebe war. Eigentlich eher Besitzanspruch. Außerdem gab es ja noch eine Mutter. Ich würde was drum geben, Blanca als Mutter zu haben.«
Robert sieht plötzlich um Jahre älter aus. Er blickt seine Tochter eine gute Weile an, bis er sich abringt: »Du hast Blanca als Großmutter. Wenn du sie nicht wegstößt, weil dir nicht passt, wie sie sich verhalten hat. Vor 30 Jahren. Findest du das gerecht?
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