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aushalten.
Und Konflikte hat es bislang reichlich in dieser Familie gegeben. Mit Igor, der den Rückzug gewählt hat, und sich nur zu Geburtstagen nach Coburg bequemt. Sogar mit Blanca. Sam kann sich nicht mehr erinnern, wann das anfing. Sie war ein kleines Mädchen, noch nicht in der Schule, als Blanca und Victoria aufeinanderprallten, zornig, voller zerstörerischer Energie, und tobten wie Erynien. Vorwürfe und Anschuldigungen schallten durchs Haus. Sam hockte in ihrem Zimmer, mit dem Stoffaffen Coco auf dem Schoß. Der Affe trug eine Schirmmütze, die war angenäht, und an jenem Tag hatte Sam sie abgerissen, sodass die Füllung aus dem Affenkopf quoll. Die plötzliche Erinnerung reißt sie mit, während sie neben ihrem Vater über den Friedhof geht. Tief atmet sie die frische Luft ein, die sich langsam erwärmt und tröstlich nach Erde riecht.
Sams Geschrei damals ging in bitterliches Weinen über. Blanca stürmte Sams Zimmer, einen drohenden Blick in den schwarzen Augen, ehe sie das Häuflein Elend sah, dem die Holzwolle an den verschwitzten Fingern klebte.
»Armer Coco!« Blanca nahm Kind und Affen auf ihren Schoß und wiegte beide sanft hin und her. »Und arme Sam.«
Sam bricht der Schweiß aus, als sie an Blancas warme, weiche Brust denkt, an die sie sich schmiegte, wie oft, das kann sie nicht sagen, sehr oft, tausendmal öfter als an Victoria, die sich nicht gern ein schmutziges, verrotztes Kind auf den Schoß setzte, um ihre Eleganz nicht in Mitleidenschaft zu ziehen.
»Was meinst du, soll ich den Coco mit heimnehmen und morgen zum Arzt bringen? Gleich am Abend hast du ihn zurück.«
Sam hat genickt und geweint und geschluchzt, sich schließlich beruhigt und Coco in Blancas Obhut gelassen. Und tatsächlich: Am nächsten Abend brachte die Großmutter den Affen vorbei. Sein Kopf war ordentlich genäht. Die Schirmmütze saß locker über einem kleinen Pflaster, das Blanca dem Affen verpasst hatte, und er hatte eine blaue Hose und einen roten Pullover bekommen.
»Jetzt kann er die Mütze abnehmen, wenn ihm warm ist«, hat Blanca gesagt. Sam hörte ihre Worte dumpf, so sehr drückte sie sich an ihre Großmutter, das Ohr auf ihren Rippen. »Und das Pflaster machst du ihm morgen ab, dann ist alles gut.«
Sie bleiben vor dem Familiengrab stehen. Isaac May. Geboren am 2. März 1923 in Albany, New York. Gestorben am 27. April 1983 in Coburg, Bayern. Victoria bückt sich, nimmt den verblühten Tulpenstrauß aus der Vase und gießt das Brackwasser unter die Eiche neben dem Grab. »Nikolaj?«
Ihr Sohn nimmt ihr die verwelkten Stengel ab und tigert zum Komposthaufen. Sam folgt ihm.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie.
»Hoffen wir.«
»Zieht weg. Zieht nach Berlin oder Hamburg oder Miami Beach.«
»Du wirst es nicht glauben: Wir denken darüber nach. Trixi kann als Fotografin überall arbeiten.« Er schleudert die Blumen auf den Komposthaufen. »Aber ich habe eben erst die Praxis eröffnet.«
»Dann fang noch mal an. Woanders. Mit mindestens 500 Kilometern zwischen hier und da.«
»Und du?«, fragt Nikolaj. Er sieht verdammt gut aus, denkt Sam. Das schwarze Haar glänzt in der Sonne, seine dunklen Augen funkeln. Er wischt sich die Hände an den Jeans ab. Schöne, gebräunte Hände mit langen, kräftigen Fingern. Sam muss daran denken, wie er seine Patienten mit diesen Händen behandelt. Ihre Muskeln knetet, sanft die Wirbelsäule gerade richtet.
Sam zuckt die Achseln. Ihre Entwürfe fallen ihr ein, mit denen sie selbst nicht warm wird. »Man wird sehen.«
»Die Frage ist nur wann, hm?«
Sam sieht zu dem Grüppchen am Grab hinüber. Victoria schaut sich ungeduldig nach ihnen um.
Rasch greift Sam nach einer Gießkanne und füllt sie mit Wasser. »Ich habe heute die Fotos durchgecheckt und alles sortiert und geordnet. Kannst du heute Abend bei mir vorbeikommen und mitnehmen, was für die Videoinstallation gedacht ist?«
»Okay.«
»Ich schaffe das nicht allein, Nikolaj. Luna kann ich auch nur begrenzt einspannen.«
»Ja, ist gut. Ich kümmere mich darum.«
»Danke, mein Held.«
Sie gehen zurück zu den anderen. Sam gießt die Bepflanzung und füllt am Schluss die Vase mit den frischen Blumen mit Wasser auf.
»Na, ob meine Tochter nach meinem Ableben auch brav jeden Sonntag frische Blumen bringt?« Robert tätschelt Sam die Schulter.
»Robert!«, zischt Victoria. »Was für eine schreckliche Anspielung.«
»Dass Sam mir Blumen bringen könnte?«
Sam lacht.
»Natürlich nicht«, schnaubt Victoria.
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