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alt ist. Danach schaltet man auf Standardprogrammierung um.
In dem Schrank befinden sich ein paar von den Quilts, die Blanca im Laufe ihres Lebens genäht hat. Sie hängen auf Bügeln, von dünnen Folien geschützt. Es riecht nach Lavendel und Walnüssen. Blanca und Sam haben letztes Jahr gemeinsam den Schrank mit Nussbaumöl eingelassen. Es soll gegen Motten helfen.
Der Schrank ist ein Monstrum. Blanca hat jahrelang über dieses Ungetüm aus dunklem Holz gejammert, das ihr in ihrem Schlafzimmer zu viel Platz wegnahm, bis Robert und Igor sich erbarmten, das Teil zerlegten und auf dem Dachboden wieder aufbauten.
Außer den Quilts lagern hier noch ein paar alte Kinderbücher. Sam nimmt sie der Reihe nach in die Hand, streicht ihnen sanft über die vergilbten Seiten. Manche stammen von Igor und Nikolaj, sie sind erst angeschafft worden, als Sam für sie zu alt war.
Sie darf sich jetzt nicht ablenken lassen. Rasch geht sie ein letztes Mal alle Fächer durch. Sie hat an Fotos zusammengesucht, was sie finden konnte, aber jetzt ist sie auf der Jagd nach etwas Bestimmten. Die privaten Aufnahmen, die sie für die Ausstellung ausgewählt hat, zeigen Victoria fast alle als junge Frau, in den 20ern. Sam hat wenige Kinderbilder gefunden, und das erstaunt sie. Sie hievt einen Karton aus dem Schrank, hockt sich auf die Fersen und geht die Bilder durch.
Ihr Großvater fotografierte, was das Zeug hielt. Déformation professionelle, denkt Sam lächelnd. Der typische Reporter mit Hang zum Archivieren. Die ordentlich sortierten Alben, die Blanca im Wohnzimmer stehen hat, hat sie längst abgegrast.
Mittlerweile hat sie einen geübten Blick und legt zügig die Fotos weg, mit denen sie nichts anfangen kann. Eigentlich sucht sie nach der Unbekannten. Wahrscheinlich bringt es nichts. Wie kann eine griechische Künstlerin namens Melia oder Melissa auf anderen Familienfotos abgelichtet sein?
Nach einer halben Stunde hat sie den Karton durchsucht und drei zusätzliche Fotos für die Ausstellung beiseitegelegt. Die Unbekannte jedoch bleibt unentdeckt. Sam geht alle Schubladen durch. Findet Anleitungen zum Quilten auf Englisch, zwei Mappen, in denen Blanca Entwürfe ihres Mannes aufbewahrt hat zu Reportagen, die nie erschienen sind. In einem anderen Karton liegen die Magazine, in denen er veröffentlichte. Sam nimmt eine Ausgabe von National Geographic in die Hand. Eigentlich will sie sich damit jetzt nicht aufhalten. Viele Male hat sie neugierig in den alten Zeitschriften geblättert. Das Heft ist aufgebläht. Sie legt es zurück in den Karton. Der geht nicht mehr zu. Ärgerlich nimmt Sam es abermals heraus. Klappt es auf. Papiere fallen heraus. Geschrieben mit einer Schreibmaschine.
Sehr geehrter Herr May,
Für die Übersetzung der von Ihnen übersandten griechischen Protokolle stelle ich Ihnen vereinbarungsgemäß eine Pauschalsumme von DM 300,- in Rechnung.
Ihr Gregor Hallstein
Das zweite Blatt ist die Rechnung, mit Umsatzsteuernummer und Datum versehen: 7. März 1983. Und einer Adresse.
Gregor Hallstein, Staatlich vereidigter Übersetzer für Griechisch und Französisch, Kirchenweg 2, Meeder.
Perplex starrt Sam einige Minuten auf die beiden Papiere. Es sind noch mehr Sachen aus dem Heft gerutscht. Sie schaut sie flüchtig durch. Englische Texte. Storys, Reportagen, Berichte. Jeweils unterzeichnet mit Isaac May.
Sam stemmt die Dachluke auf. Sie braucht frische Luft.
Ihr schwirrt der Kopf. Wozu hat ihr Großvater eine Übersetzung aus dem Griechischen haben wollen?
Seltsam, dass die Rechnung all die Jahre zwischen den getippten Reportagen lag, denkt Sam. Vielleicht recherchierte er eine Story, die mit Griechenland zu tun hatte, und benötigte dafür die Hilfe eines Übersetzers?
Sie könnte Blanca fragen.
Sam steckt die Fotos ein, die sie ausgewählt hat, und faltet die Rechnung und den Brief von Gregor Hallstein so, dass alles in ihre Handtasche passt. Anschließend räumt sie die Kartons in den Schrank, schließt die Türen, löscht das Licht und klettert über die Leiter nach unten.
14
Der Regen ist Vergangenheit. Schäfchenwolken ziehen über den blauen Himmel. Sam radelt an Hecken voller Flieder vorbei, kämpft sich die Straße nach Beiersdorf entlang, links auf dem Hügel liegt Schloss Callenberg, rechts der Goldbergsee. Hinter dem Dorf empfangen sie ringsum Wiesen, gelb strahlend von Löwenzahn. Am Rain wachsen Schlüsselblumen. Ab und zu schmuggeln sich weiße und rosafarbene Tupfer zwischen das Grün und Gelb.
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