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für möglich hält. Plötzlich hat sie Lust, ihn ein wenig zu verkackeiern.
»Allerdings. Frühlingsfarben. Lindgrün und gelb, schöne Chintzstoffe …«
»Pech gehabt, Frau …«
Sie hat sich ihm nicht einmal vorgestellt.
»Ich heiße Samantha May. Ich bin wirklich in der Textilbranche, aber ich kannte Ihren Vater gar nicht.«
»Gut, dass wir das geklärt haben.« Er sieht erleichtert aus. »Ich komme kaum rum mit den Rechnungen. Mein Vater ist vor zwei Monaten gestorben. Herzinfarkt. Er lag fast drei Wochen tot hier im Haus. Ich habe x-mal angerufen, nie ging er an den Apparat. Da habe ich mir die Finger wund telefoniert, um eine Nachbarin aufzutreiben, die seinen Ersatzschlüssel hatte. Die Frau nimmt es mir immer noch übel, dass ich nicht selber nach dem Rechten sah.«
»Das tut mir leid.«
»Ja. Ich bin ein scheiß Sohn.«
»Sie wohnen weiter weg?«
»Bis vor drei Wochen habe ich in Krakau gewohnt. Ich bin Journalist. Eigentlich.«
»Mein Großvater ist auch ganz plötzlich gestorben. Herzinfarkt. Ich war noch sehr klein.«
»Das Herz macht irgendwann schlicht nicht mehr mit, stimmt’s?« Er seufzt. »Bei dem stressigen Leben heutzutage. Obwohl ich nicht mal weiß, ob mein Vater ein sehr aufreibendes Leben hatte. Er hat seinen Beruf seit geraumer Zeit nicht mehr ausgeübt. Meine Mutter starb, als ich 16 war. Seitdem vergrub er sich in diesem Haus. Depressionen.«
»Das tut mir leid.« Sam merkt, sie wiederholt sich, aber was soll sie sonst sagen?
»Übrigens, ich bin Roman.« Er erhebt sich halb vom Sofa, streckt Sam seine Hand hin. »Und Sie heißen Samantha?«
»Sam.«
»Cool.«
Sie schütteln einander die Hand und lächeln dabei. Seine Finger sind lang und muskulös.
»Wenn Sie nicht wegen einem ultramodernen Couchbezug kommen – warum sonst?«
»Ich habe eine Rechnung Ihres Vaters gefunden. Es ging um die Übersetzung eines Textes aus dem Griechischen. Das ist fast 30 Jahre her. Ich hätte Ihren Vater gern gefragt, ob er sich erinnert, worum es in dem Text ging.«
»Vor 30 Jahren?« Roman lacht.
»29, um genau zu sein. Ich weiß, es ist vermutlich grotesk zu glauben, dass sich jemand über so lange Zeit an den Inhalt eines Textes erinnert, aber es wäre sehr wichtig für mich. Ich …«
»Nun mal langsam!« Roman hebt beide Hände in einer beruhigenden Geste. »Mein Vater war ein Pedant. Ein Pedant mit einer perfekt durchorganisierten Kartei. Sie wissen, was ich meine? Wenn wir das genaue Datum der Rechnung haben, kriegen wir raus, was für ein Text das war. Kommen Sie!«
Roman führt sie eine Treppe hinauf in ein Zimmerchen, in dem der Staub unter dem einzigen Tisch, dem Stuhl, dem Karteischrank wallt. Das Fenster steht offen. Eine Blautanne wächst ganz nah am Haus. Eine Amsel sitzt dort und zwitschert.
»Gregor Hallsteins Registratur. Setzen Sie sich lieber nicht, ich bin noch nicht zum Putzen gekommen.«
Sam sagt nichts. Wenn er schon drei Wochen hier ist, denkt sie, hatte er schlicht keinen Bock zum Saubermachen.
»Okay, ich gebe es zu. Ich war zu faul.« Er grinst.
Gedanken lesen kann er also auch, denkt Sam. Die Grübchen in seinen Wangen werden tief wie Krater.
»Hier.« Roman klopft auf den Karteischrank. »Mit diesem System kam mein Vater sein ganzes Berufsleben aus. Er hat nie einen Computer benutzt.«
Sam geht zum Tisch und streicht mit dem Finger über die grüne Haube, die eine Schreibmaschine abdeckt. Sie hinterlässt eine dunkle Spur im Staub. Roman folgt ihrem Blick.
»Eine Adler.«
»Nostalgisch, irgendwie.«
»Ich möchte nichts mehr auf einem solchen Fahrrad tippen, das sage ich Ihnen, keine Zeile!«
»Absturzsicher und virenfrei. Hat Vorteile.«
Er rollt eine Schublade aus dem Karteischrank. »Hier, alles nach Jahren geordnet. Gelbe Karteikarten. Er bestellte sie bei einem Geschäft für Bürobedarf in Bielefeld. Immer dort. All die Jahre. Weiß der Himmel, warum.«
Seine langen Finger tänzeln über die Kanten der Karteikarten. Dabei murmelt er »1983, 1983.« Hebt den Kopf und fragt: »Hieß Ihr Großvater auch May?«
»Ja.« Sam buchstabiert. »M, A, Y.«
»Klar.« Er fischt eine Karteikarte heraus. Es sind DIN A 5-große Karten im Querformat, die mit einer Lasche versehen sind. Darin stecken mehrere gefaltete Blätter.
Roman versetzt der Schublade einen kleinen Schubs. Lautlos schließt sie sich. Er legt die Karte auf den Tisch.
»Lesen Sie. Möchten Sie etwas zu trinken? Kaffee vielleicht?«
»Lieber was Kaltes.« Mit zitternden
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