B00DJ0I366 EBOK
Fingern greift Sam nach den Unterlagen.
»Leitungswasser? Oder ein Bier?«
»Ein Bier«, hört Sam sich sagen. Ihr Herz rast.
»Ay, Lady.« Roman verlässt das Zimmer. Sie hört, wie er die Treppe hinunterpoltert, mit Riesenschritten, wahrscheinlich nimmt er zwei Stufen auf einmal.
Sie entfaltet die Papiere. Es gibt mehrere Seiten auf Griechisch, versehen mit allerlei Stempeln. Dann etliche auf Deutsch. Die Übersetzung, angefertigt von Gregor Hallstein.
Sam liest. Runzelt die Stirn.
Das kann nicht sein.
Sie liest und liest, ihre Augen gleiten wieder und wieder über die Seiten, bis sie brennen und tränen.
Victoria May hat am 30. März bei der Polizei in Olympia einen tödlichen Unfall gemeldet.
Roman Hallstein poltert die Treppen hinauf.
Den tödlichen Unfall von Grace May.
Roman stellt eine Bierflasche neben Sam auf den Tisch. Es zischt, als er den Kronkorken entfernt.
Eine Leiche wurde nie gefunden.
Eine dunkle Flüssigkeit sprudelt aus der Flasche und rinnt auf die Tischplatte.
Grace May, geboren am 6. Januar 1951 in Coburg.
Roman Hallstein hebt die Flasche hoch, wischt mit dem Ärmel über den Tisch. Sam nimmt ihm die Flasche aus der Hand und trinkt in großen Schlucken.
15
Es braucht ein zweites Bier, bis Sam imstande ist, zu reden. Roman, ratlos, stellt ihr die Flasche auf den wackeligen Tisch.
»Wer ist Grace?«, murmelt Sam. Ihr Kopf will platzen. Sie wird beinahe klaustrophobisch in dem Zimmerchen. Alles kommt ihr zu eng vor, sogar ihre eigene Haut. Wolken schieben sich vor die Sonne, der helle Frühlingstag kauert sich unter eine dicke graue Decke. Die Amsel fliegt wütend tschilpend davon.
»Grace?«, fragt Roman schließlich zurück. Er hält die Bierflasche am Hals fest und nimmt einen großen Schluck. »Sie müssen entschuldigen, interviewtechnisch bin ich eine Niete.«
»Untypisch für einen Journalisten.«
»Tja, zurzeit habe ich beruflich eben kein Glück.« Roman hebt seine Flasche und stößt mit Sam an.
Es beginnt zu regnen. Dicke Tropfen klatschen ans Fenster.
»May. Grace May. Geboren am 6.1.1951. Wer soll das sein?«
»Eine Verwandte von Ihnen?«
»Meine Mutter hat auf ihrer Griechenlandreise den Tod einer Grace May gemeldet. Keine Leiche. Und niemals, verstehen Sie, niemals hat jemand in meiner Familie diesen Namen ausgesprochen. Grace.« Sie sagt das letzte Wort mit einem verträumten Gesichtsausdruck.
»Schöner Name.«
Sam nimmt einen Schluck Bier. »Meine Mutter heißt Victoria. Mein Großvater war Amerikaner. Isaac May. Er wollte, dass seine Tochter einen englischen Namen bekommt, damit er zum Familiennamen passt.«
»Klingt logisch.«
»Ich muss Joanie fragen, ob sie weiß, wer Grace ist.« Im Grunde ahnt Sam, wer Grace ist. Ihre Mutter ist 1953 geboren. Kann das möglich …? Warum sollte … weshalb hat Blanca ihr nie etwas erzählt? Und ihre Mutter? Es gab ein Unglück. Wie aus den Papieren hervorgeht, traf Victoria keine Schuld.
»Joanie?« Roman runzelt in höchster Konzentration die Stirn.
»Eine Cousine. Aus den Staaten.«
»Aha.«
»Glauben Sie, der Wind kann ein Foto aus dem Zimmer auf die Straße wehen und verschwinden lassen?« Sam sieht Roman an. Sie mag die Grübchen in seinen Wangen. Gerade lächelt er mit einem verlegenen Gesichtsausdruck. Sie mag auch das in alle Richtungen abstehende Haar.
»Ein einzelnes Foto?«
»Ich hatte es auf dem Schreibtisch liegen.«
»Sind andere Papiere auch verloren gegangen?«
Er hat so einen rationalen Zugang. Es tröstet Sam. Den Dingen ist beizukommen, wenn man seine Gedanken in eine vernünftige Ordnung bringt. Aber wie soll sie das schaffen, wo die Impulse in ihrem Gehirn überschnappen, ein wahres Feuerwerk von Gedankensplittern, ein panisches Vor und Zurück.
»Nein. Sonst nichts.«
»Merkwürdig.«
»Ja.«
»Im Grunde genommen unwahrscheinlich.«
Er hat recht. Es ist unwahrscheinlich, obwohl das Wetter in jener Nacht verrückt spielte und andere Fotos aus der Kiste im Zimmer verstreut waren.
»Ein Einbrecher«, sagt sie. Es klingt hohl in ihren Ohren.
»Warum sollte ein Einbrecher ein einziges Foto stehlen?« Roman schüttelt den Kopf. »Es müsste ein äußerst wertvolles Bild sein.«
»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Außer mit meiner Großmutter. Und mit meiner Mutter. Und mit Luna.«
»Luna?«
»Eine Freundin.«
»Klar.« Roman trinkt sein Bier aus.
Der Regen rauscht jetzt in langen Schnüren herab. Roman steht auf und schaltet die Deckenlampe ein. Sie streut gelbes
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