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Telefon. Sie ruft Blanca an.
»Sam, mein Mädchen. Wie schön, dich zu hören. Wie geht es dir?«
Sam möchte in Tränen ausbrechen. »Ich bin eine verdammte Provinzlerin.«
»Ach du liebe Zeit!« Blanca lacht. »Das hört sich so an, als wäre es Zeit, dass du mal was Vernünftiges in den Magen bekommst.«
»Ich …«
»Gutes Essen hält Leib und Seele zusammen. Keine Widerrede. Ich koche uns was. Ich rechne mit dir, Liebes. Um acht?«
»Um acht.«
*
An dem Tag, an dem Victoria aus Griechenland anrief, war Blanca damit beschäftigt, zu quilten. Sie liebte die Beschäftigung mit Stoffen. Wenn sie heute darüber nachdenkt, glaubt sie, dass Sam ihre Liebe zum Nähen, zu schöner Dekoration von ihr mitbekommen hat. Wie oft Victoria das Mädchen bei ihr ließ, wenn sie für ihre Kunst unterwegs war!
Für ihre Kunst.
Blanca streckt sich auf dem Sofa aus. Sie hat nichts dagegen, Sam das Aufräumen und Spülen zu überlassen. Der Luxus des Alters – auf der Couch zu dösen, während das Jungvolk Klarschiff macht. Sie lächelt. Sam ist ihr so ähnlich. Sie kann bloß hoffen, dass die Katastrophe zu Beginn ihres Lebens keine weiteren dieser Größenordnung nach sich zieht.
Blanca erinnert sich, wie die Quiltnadel durch den Stoff glitt – wie Butter. Sie hatte damals neue Nadeln bestellt, denn mit normalen Nähnadeln tat sie sich zu schwer. Stolz, dass sie bereits fünf Stiche pro Inch schaffte, saß sie auf ihrem Arbeitsstuhl. Draußen nieselte es. Ein unerfreulicher Tag ging zu Ende. Isaac hatte für ein Magazin eine Reportage verfasst, dreimal umgeschrieben, gekürzt, verlängert. Schließlich war sie doch nicht genommen worden. Kurzerhand hatte Blanca ihren Mann mitsamt Enkelin im Kinderwagen auf einen Spaziergang geschickt. »Das Kind muss an die frische Luft, und du auch.« Mit Sam war es manchmal wie mit einem eigenen Kind: Man musste sich Freiräume schaffen.
Blancas Nadel glitt durch den Stoff. Endlich taten ihr die Finger nicht mehr weh. Sie hatte viel Übung gebraucht, um ihren Handgriffen die nötige Leichtigkeit mitzugeben. Ihre Schwägerin Barbara hatte sie bei ihrem letzten USA-Besuch mit dem Quilteifer angesteckt. Inzwischen versuchte sich Blanca sogar an Mustern. Sie arbeitete an einem Quilt voller Mohnblumen. Mit grün-blauem Rand. Und roten Blumen. Noch heute sieht sie den Faden, der wie ein Wurm der Nadel folgte, als das Telefon klingelte.
Sie legte den Quiltrahmen sorgfältig auf den Boden und nahm den Hörer: »May?«
Stille am anderen Ende der Leitung. Sie hörte nichts als Fetzen jener Geräusche, die sich auf langen Strecken zwischen zwei Telefonen festfressen.
»Mutter?«
»Victoria!« In diesem Augenblick, als Blanca die Stimme ihrer Tochter hörte, ergriff sie Panik.
»Es hat ein Unglück gegeben«, sagte Victoria. Ihre Stimme klang vollkommen emotionslos.
Blanca hörte zu. Ihre Tochter rang sich Worte ab, Sätze, versuchte zu erklären, bis sie zu erschöpft zum Weitersprechen war.
»Ich verstehe«, sagte Blanca schließlich, als lange Zeit kein Laut mehr durch den Hörer drang.
Wie konnte ich sagen, ich verstehe?, fragt sich Blanca jetzt. Ihr ist kalt, wie sie so auf dem Sofa liegt. Lucienne springt zu ihr, macht es sich auf ihrem Bauch bequem. Wie kann man so etwas verstehen, es ist unbegreiflich, so unfassbar wie das Wunder, das Kinder zur Welt kommen lässt, das einen Menschen einen Zweiten finden lässt, um gemeinsam durchs Leben zu gehen.
»Blanca?«, fragt Sams Stimme dicht neben ihr.
»Hm?« Sie muss eingeschlafen sein.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich auf dem Dachboden die restlichen Kisten durchgehe? Mir fehlt noch Material für die Ausstellung.«
»Mach das«, sagt Blanca.
Isaac hat die meisten Sachen vernichtet. Und sie selbst hat weggeworfen, geschreddert und verbrannt, was er übersehen hat. Die wenigen Dinge, die sie nicht hergeben wollte, sind gut versteckt.
»Okay«, sagt Sam.
Blanca ist wirklich müde. Als sie einschlummert, spürt sie, wie Sam sie zudeckt und leicht auf die Stirn küsst.
13
Sam klettert auf den Dachboden. Die Leiter, die man mit einem speziellen Haken aus der Dachluke ziehen muss, klemmt, und beim Hinaufsteigen federn die Sprossen.
Sie knipst die Lampe an. Als Kind hat sie Abenteuer auf diesem Dachboden erlebt. Zelte gebaut, Piratenschiffe mit Pfeil und Bogen beschossen, mit Freundinnen übernachtet. Seltsam, denkt Sam, während sie zu dem Schrank am hinteren Ende geht, das wirklich Spannende passiert, bis man 12, 13 Jahre
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