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Gesicht in seine Hände:
»Du hast einen Fehler gemacht, Victoria!«
Sie wich zurück.
»Was meinst du?« Es überlief sie heiß und kalt. Natürlich wusste sie instinktiv und von der ersten Sekunde an, was er meinte.
»Du hast alle ihre Bilder und Skizzen …« Er brach ab, mit offenem Mund starrte er seine Tochter an. »Was hast du dir dabei gedacht!«
»Sie sollten nicht in fremde Hände gelangen.«
»Sind Blancas und meine Hände fremd? Na los, sag es mir!«
Victoria schüttelte nur stumm den Kopf.
»Ich weiß nicht, was dich dazu getrieben hat.« Seine Stimme wurde leiser. Er ließ sie los und flüsterte: »Ich weiß nur, dass du – zufällig – vor wenigen Monaten einen Vertrag mit einer Galerie unterschrieben hast, und dass du – zufällig – im August eine Ausstellung in München hast und dass du – zufällig – letztes Jahr …« Er brach ab.
Victoria fühlt noch heute seinen heißen Atem in ihrem Gesicht. Und sie erinnert sich an seine Lippen: Sie waren dunkelviolett.
»Get me a drink!«, sagte ihr Vater.
Er hatte noch nie in ihrem Haus Alkohol verlangt. Er hatte auch noch nie in diesem Ton mit ihr gesprochen.
An jenem Freitag, während der Regen gegen die Fenster klatschte, mixte sie ihm einen Gin Tonic. Und sich selbst auch.
Er stürzte das erste Glas in einem Zug herunter. Es hörte sich an, als dränge Luft in ein Vakuum.
Sie mixte ihm einen zweiten.
»Du solltest wissen, Tochter, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht kommt. Denk an Sam!«
»Sie wird nie irgendetwas erfahren.«
Isaac schwieg.
»Vater! Wir waren uns einig! Du, Mutter, Robert und ich!«
»Da ist nicht allein das eine, das sie nicht wissen soll.« Er setzte sich.
»Vater!« Voller Entsetzen goss sie ihm Gin ins Glas. Viel zu viel.
Er nahm ihr die Flasche aus der Hand, knallte sie auf den Tisch. »Vater!«, äffte er sie nach. »Vater!« Er stemmte die Arme auf die Tischplatte und beugte sich weit vor. »Es gibt nicht nur ein Geheimnis, das Sam nicht wissen soll. Sondern zwei.«
Victoria wich zurück.
»Zwei Geheimnisse, my dear, und deine Mutter soll das eine nicht erfahren.« Schmerz breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Denn sie leidet. Mein Gott, wie sie leidet!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Weißt du nicht?« Er lachte auf. Es klang überdreht, fast irre. »Du weißt es. Du bist intelligent. A clever girl. Immer gewesen. Hab ich recht?« Er trank das Glas in einem Zug aus. »More clever than …« Er holte mit der Hand aus. »Schenk nach!«
»Das ist zu viel, Vater, ehrlich.«
»Halt den Mund!«, zischte er.
Victoria lief es kalt den Rücken hinunter. Sie nahm die Flasche, schenkte ihm nach.
Isaac war erregt und wütend. Er redete sich in Rage. Er tobte. Er weinte. Er drohte.
Victoria bekam Angst. Angst um sich und Sam, die oben in ihrem Zimmer schlief.
Sie musste Sam retten.
12
Am Montag schickt Sam ihre Entwürfe weg. Wie immer, wenn sie warten muss, wie andere ihre Arbeit beurteilen, fühlt sie sich leer und ausgezehrt. Es gibt Zeiten, da weint sie, wenn eine Mail gesendet, ein Päckchen aufgegeben ist. Sich von ihren Ideen zu trennen, gibt ihr ein Gefühl von Sinnlosigkeit.
Den Rest des Vormittags sucht sie nach dem Foto. Erfolglos. Der Wind muss es aus dem Fenster geweht haben. Wahrscheinlich ist es unter einem Auto gelandet, in einer Pfütze oder sonst wo.
Ein Teil von ihr glaubt diese Erklärung. Ein anderer Teil tippt sich an die Stirn.
Sie duscht lange und ausgiebig. Den Nachmittag verbummelt sie in der Innenstadt. Sie kauft sich ein Eis, schlendert zu ihrer Lieblingsboutique in der Webergasse, studiert die Auslagen im Schaufenster. Demnächst hat sie einen Auftrag und eine fette Summe Geld auf dem Konto. Dann wird sie Klamotten kaufen.
Zurück in ihrer Wohnung ruft Sam Luna an.
»Schätzchen, ich sitze in einem coolen Café mitten in Frankfurt!« Luna ist so begeistert, dass sie ins Telefon schreit. »Japanisch, alles japanisch. Die haben sogar Grünteetorte!«
»Ich habe heute meine Entwürfe abgeschickt.«
»Toitoitoi und Spucke auf dein Haupt, Sam!«
»Danke. Ich habe ein komisches Gefühl, weißt du.«
»Das ist immer so.« Im Hintergrund klirren Gläser. »Sam, Allerliebste, wir stoßen auf unseren Vertrag an. Ich ruf dich zurück, okay?«
Schon hat Luna aufgelegt.
In was für ein Leben bin ich geraten, fragt sich Sam. Sie holt die Rieslingflasche aus dem Kühlschrank. Als sie das Glas bis zum Rand vollschenkt, greift ihre Hand wie von selbst zum
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