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Licht in den Raum.
Sam blickt auf die Übersetzung. Grace May, eine Klippe hinabgestürzt, die Leiche unauffindbar. Die wahrscheinlichste Erklärung aus Sicht der griechischen Polizei ist, dass an jenem Tag eine extreme Wetterlage herrschte, unberechenbare Unterströmungen des Meeres, die einen Leichnam mit Leichtigkeit unter Wasser drücken konnten. Irgendwann würde, so meinte der Kommissar, der mit dem Fall betraut war, die Leiche an einem ganz anderen Küstenabschnitt anlanden – oder sie würde nie mehr gefunden werden, sich zersetzen, von Fischen abgefressen werden.
»Meine Mutter hat nie etwas davon verlauten lassen. Niemand in meiner Familie, verstehen Sie? Dabei halten wir immer zusammen.« Sam schüttelt den Kopf. Sie kann es nicht glauben. Selbst ihr Vater hat nie etwas anklingen lassen.
Mutter hat es verdrängt, denkt Sam. Das Erlebnis war so traumatisierend, dass sie es verdrängt hat. Sie hatte mich und später Igor und Nicolaj. Sie hatte Ablenkung, und über die Jahre wurde ihr der Unfall auf dem Peloponnes immer unwirklicher, als wäre es nur noch ein tragischer Vorfall, von dem sie in der Zeitung gelesen hat.
»Als meine Großmutter das Foto ansah, wurde sie ganz starr. Sie war entsetzt.«
Roman nickt. Sie merkt, dass er mit aller vorhandenen Aufmerksamkeit daran arbeitet, diese vielen Versatzstücke zusammenzukriegen. Sie müsste ihm helfen, aber sie kann nichts mehr erklären. Es ist, als füge das Mosaik sich vor ihren Augen ganz von selbst zusammen, jetzt, in diesem bedrückenden Zimmer unter dem kränklichen Schein der Deckenlampe, in dem der Staub behäbig tanzt.
»Sie haben nicht zufällig einen Abzug des Fotos dabei?«, fragt Roman.
»Es ist digital auf meinem Computer zu Hause.«
»Hoffen wir, dass der Einbrecher nicht ihren Rechner knackt.«
Sam erschrickt. Sie greift nach der Bierflasche, fasst daneben. Die Flasche fällt um, doch sie ist längst leer. Nur eine dünne Lache bildet sich auf der Tischplatte. Automatisch nimmt Sam die Blätter weg.
»Meinen Sie, das ist möglich?«
»Wer weiß?«
»Ich muss sofort heim und nachsehen, ob alles okay ist.«
Roman weist zum Fenster. »Es regnet wie aus Eimern.«
»Egal.«
»Ich könnte Sie fahren. Ihr Rad kriegen wir in den Kombi rein.«
»Kann ich die Berichte mitnehmen? Ich werde alles kopieren und Ihnen zurückgeben.«
Roman winkt ab. »Ich muss das Zeug ohnehin entsorgen.«
Sam sieht ihn befremdet an.
»Im Ernst.« Er lacht. »Meinen Sie, hier schwirrt demnächst jemand anderes herein und fragt nach der Übersetzung, die für einen Isaac May in den spießigen 80ern angefertigt wurde?«
»Mein Großvater muss etwas geahnt haben. Einen Verdacht gehabt haben.«
Roman löscht das Licht. Er fährt seinen Wagen aus der Garage neben dem Haus, lädt im strömenden Regen Sams Rad in den Kofferraum und hält ihr dann die Beifahrertür auf. Klatschnass steigt er ein. Sweater und Jeans kleben ihm am Leib.
»Sie sind ganz nass«, sagt Sam. »Es tut mir leid. Alles meinetwegen.«
»Machen Sie sich keinen Kopf.« Er legt den ersten Gang ein und fährt an. Am Nachbarhaus wackeln die Gardinen. »Ist mal was anderes als das traurige Haus.«
»Sie haben weiß Gott andere Sorgen!« Sam fragt sich, ob sie selbst diese Worte spricht, Allgemeinplätze, eingeübte Floskeln, um die Verlegenheit zu überspielen. Ein Teil von ihr hört einfach zu. Und ein anderer Teil denkt nach, schiebt die vielen Variablen dieser Geschichte hin und her. Grace May. 6. 1. 1951. Kein Leichnam gefunden. Starke Unterströmungen. Von der Klippe gestürzt. Melia oder Melissa.
»Glauben Sie, diese Papiere sind die Originale?« Sam nimmt die Zettel vorsichtig aus ihrer Handtasche.
»Üblicherweise sind das beglaubigte Abschriften.«
»Wie kam mein Großvater an die Papiere? Und warum …« Sie verstummt. Niemand in der Familie hat je den Namen Grace fallen lassen. Warum, warum, warum? Wenn diese Grace so tragisch gestorben ist, wäre es letztlich verständlich, wenn es ein Foto von ihr gäbe, zum Beispiel an Blancas Familienwand in der Küche. Wenn man von ihr spräche, ab und zu.
Sie verschweigen Grace May. Der Satz stanzt Löcher in Sams Gefühle. Mit einem Mal kommt ihr, dass auch der amerikanische Onkel Fred, das schwarze Schaf, bis vor Kurzem ein Unbekannter für sie war. Sam verliert sich in ihren Gedanken, während der Motor leise schnurrt und die Scheibenwischer rhythmisch über die Windschutzscheibe gleiten. Sie spürt Romans Blick auf sich.
Die
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